4. Kriterien zur Beurteilung mangelnder Einheitlichkeit
In G 1/89 (ABl. 1991, 155; s. auch G 2/89, ABl. 1991, 166) war die Große Beschwerdekammer mit der Frage befasst worden, ob die ISA befugt ist, eine internationale Anmeldung materiellrechtlich auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung erfüllt (s. auch die Vorlageentscheidung W 12/89 date: 1989-06-29, ABl. 1990, 152).
Wenn ja, unter welchen Umständen ist die Internationale Recherchenbehörde dann verpflichtet, diese materiellrechtliche Prüfung vorzunehmen?"
Es erging durch die Große Beschwerdekammer folgende Entscheidung: Nach dem üblichen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff "Prüfung" oder "materiellrechtliche Prüfung" auf die Tätigkeit der Behörden, die über die Patentierbarkeit zu befinden haben, so z. B. die Prüfungsabteilung des EPA, oder die IPEA und/oder das Bestimmungsamt. Offensichtlich hat also eine ISA keine Befugnis, diese Tätigkeit auszuüben. Eine ISA darf sich zum Zwecke der Durchführung einer effizienten Recherche nur eine vorläufige Meinung über die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit bilden. Diese Meinung ist für die oben genannten Behörden in keiner Weise bindend. Derselbe Grundsatz gilt, wenn eine ISA a posteriori feststellt, dass eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach R. 13.1 PCT nicht erfüllt. Diese Feststellung hat nur die verfahrensrechtliche Wirkung, dass das besondere Verfahren nach Art. 17 PCT und R. 40 PCT in Gang gesetzt wird, und ist deshalb keine "materiellrechtliche Prüfung" im üblichen Sinn. Die Feststellung, ob eine einzige allgemeine erfinderische Idee vorliegt, ist nur insofern vorzunehmen, als dies für die Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung im Hinblick auf die Durchführung des festgelegten Verfahrens notwendig ist. Eine solche Feststellung hat vorläufigen Charakter und stellt keine "materiellrechtliche Prüfung" im Sinne einer Prüfung auf Patentfähigkeit dar (vgl. W 6/90, ABl. 1991, 438).
Die Große Beschwerdekammer führte weiter aus, dass bei der Untersuchung des Erfordernisses der Einheitlichkeit der Erfindung durch die ISA immer berücksichtigt werden sollte, dass dem Anmelder eine gerechte Behandlung zuteil wird und dass die zusätzliche Gebühr nach Art. 17 (3) a) PCT nur in eindeutigen Fällen verlangt werden sollte. Da der Anmelder bei dieser Untersuchung nach dem PCT keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhält, sollte die ISA bei der Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit Zurückhaltung üben; sie soll in Grenzfällen nicht davon ausgehen, dass eine Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung wegen mangelnder Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit nicht erfüllt (vgl. W 24/90, W 23/91, W 43/91). In W 1/97 befand die Kammer, dass ein eindeutiger Fall offensichtlich nicht vorliegt, wenn die ISA auch nach der Recherche eines Teils des Gegenstands der Erfindung nicht in der Lage ist, mehrere getrennte Erfindungen nachzuweisen.
Im Anschluss an die Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in G 1/89 und G 2/89 begründeten die Kammern in mehreren Fällen die festgestellte Uneinheitlichkeit mit mangelnder Neuheit oder mangelnder erfinderischer Tätigkeit der der Erfindung zugrunde liegenden allgemeinen erfinderischen Idee (vgl. W 17/89, W 27/89, W 18/90, W 19/90). In der Entscheidung W 10/92 führte die Kammer aus, dass für die Beurteilung der Einheitlichkeit der Aufgabe-Lösungs-Ansatz zu berücksichtigen ist (W 16/91, W 21/91).
In W 17/03 hatte die ISA die Auffassung vertreten, dass das Fehlen gemeinsamer technischer Merkmale und die Lösung angeblich unterschiedlicher Aufgaben ausreichten, um mangelnde Einheitlichkeit verschiedener Gruppen von Erfindungen nachzuweisen. Dagegen vertrat die Kammer die Auffassung, der Ansatz der ISA zur Ermittlung der Aufgabe scheine ihr dem Glauben zu entspringen, hier sei dieselbe Analyse erforderlich wie bei der Ermittlung der Aufgabe zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz, möglicherweise weil es in beiden Fällen um Unterschiede und Aufgaben gehe. Die Kammer erklärte, sie sei nicht davon überzeugt, dass die Untersuchung der technischen Zusammenhänge mithilfe allgemeiner Aufgaben, die den Erfindungen zugrunde lägen, im Rahmen der Beurteilung der Einheitlichkeit unbedingt identisch sei mit der Analyse zur Ermittlung der Aufgabe im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz. Dies begründete sie wie folgt:
(1) Bei der Beurteilung der Einheitlichkeit würden die von verschiedenen Ansprüchen gelösten Aufgaben (oder erzielten Wirkungen) miteinander verglichen, während die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit anhand eines einzigen Anspruchs erfolge. Daher müssten die von den verschiedenen Ansprüchen gelösten Aufgaben bei der Prüfung der Einheitlichkeit zusammen betrachtet werden und könnten nicht unabhängig voneinander in einem absoluten Sinne ermittelt werden.
(2) Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gehe es darum, auf der Grundlage der Unterscheidungsmerkmale eine Aufgabe zu definieren, die im Wesentlichen möglichst eng gefasst sei, aber keine Elemente der Lösung enthalte. Dagegen gälten diese Einschränkungen bei der Beurteilung der Einheitlichkeit nicht, weil das Ziel dort darin bestehe, herauszufinden, was die Ansprüche gemeinsam hätten, d. h. ob die betreffenden Erfindungen so verbunden seien, dass sie eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichten.
Somit bedürften die von den verschiedenen Erfindungen gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik gelösten konkreten Aufgaben unter Umständen einer allmählichen Verfeinerung, insbesondere einer Verallgemeinerung ausgehend von der unmittelbar gelösten Aufgabe, damit ermittelt werden könne, ob ein gemeinsamer Nenner vorliege, der die Erfindungen noch von diesem Stand der Technik unterscheide.