2.4. Vorlage durch den Präsidenten des EPA
In G 3/08 date: 2010-05-12 (ABl. 2011, 10) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Begriffe "different decisions/voneinander abweichende Entscheidungen/décisions divergentes" nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge im Lichte seines Ziels und Zwecks ausgelegt werden müssen. Zweck des präsidialen Vorlagerechts nach Art. 112 (1) b) EPÜ ist es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit herzustellen. In Anbetracht dieses Zwecks der Vorlagebefugnis des Präsidenten ist der englische Begriff "different decisions" restriktiv im Sinne von "divergierende Entscheidungen" zu verstehen. Rechtsfortbildung ist ein weiterer Aspekt, den es sorgfältig zu prüfen gilt. Rechtsfortbildung ist eine unverzichtbare Aufgabe der Rechtsanwendung und jeder richterlichen Tätigkeit immanent. Rechtsfortbildung allein ist daher keine hinreichende Grundlage für eine Vorlage, weil die Entwicklung der Rechtsprechung nicht immer geradlinig verläuft und frühere Ansätze verworfen oder modifiziert werden können. Siehe auch G 3/19.
Gerichtliche Entscheidungen werden nicht vom Spruch, sondern von den Entscheidungsgründen geprägt. Die Große Beschwerdekammer kann daher bei der Prüfung, ob zwei Entscheidungen die Erfordernisse des Art. 112 (1) b) EPÜ erfüllen, auch obiter dicta berücksichtigen (s. auch G 3/93, ABl. 1995, 18).
In G 4/98 (ABl. 2001, 131) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass eine Diskrepanz zwischen der Amtspraxis des EPA und der Rechtsprechung der Beschwerdekammern allein nicht ausreicht, um eine Vorlage des Präsidenten zu rechtfertigen, wenn die Praxis des EPA nicht durch die Rechtsprechung untermauert ist.
In G 3/95 (ABl. 1996, 169) erachtete die Große Beschwerdekammer die Vorlage durch den Präsidenten des EPA für unzulässig, da es keine voneinander abweichenden (d. h. sich widersprechenden) Entscheidungen gebe. In G 3/08 date: 2010-05-12 (betreffend Art. 52 (2) EPÜ, Computerprogramme) führte die Große Beschwerdekammer aus, dass T 424/03 zwar durchaus von T 1173/97 abweiche, dies jedoch auf einer legitimen Weiterentwicklung der Rechtsprechung beruhe und keine Abweichung begründe, die die Vorlage rechtfertigen würde.
In T 646/13 lehnte die Kammer unter Bezugnahme auf G 3/08 date: 2010-05-12 den Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer ab und stellte fest, dass angebliche Widersprüche zwischen den Entscheidungen T 464/05 und T 1811/13 nicht bestanden. Vielmehr veranschaulichten diese Entscheidungen nach Ansicht der Kammer eine Entwicklung der Rechtsprechung zu einer bestimmten Frage.