4.3.2 Offenkundige Vorbenutzung
Hingegen hat der Einsprechende eine offenkundige Vorbenutzung lückenlos nachzuweisen, wenn praktisch alle Beweismittel dafür seiner Verfügungsmacht und seinem Wissen unterliegen und für den Patentinhaber kaum oder gar nicht zugänglich sind (T 472/92, ABl. 1998, 161; vgl. T 782/92, wo es heißt, der Nachweis müsse "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" erbracht werden). Die Kammern entschieden, dass die Beweismittel im Einflussbereich des Einsprechenden lagen: T 2451/13 und T 703/12 (Vorbenutzung erfolgte durch eine Tochtergesellschaft des Einsprechenden); T 202/13 (der Einsprechende war der Rechtsnachfolger des direkt in die angebliche Vorveröffentlichung involvierten Unternehmens); T 2338/13 (Vom Einsprechenden zu vertretendes Informationsdefizit über die Beziehung zwischen dem Zeugen, der Person, die ihn kontaktiert hat, und dem Einsprechenden, der sich auf diese Zeugenaussage gestützt hat); T 703/12 (Erzeugnis auf der Messe "Ambiente" in Frankfurt vorgestellt); T 274/12 (Tochtergesellschaft – Gespräche zwischen Firmen); T 544/14 (Tochtergesellschaft); T 1262/15 (Tochterunternehmen des Einsprechenden); T 1469/08 (vorgelegte Beweise umfassten Verkauf durch die Firma des Einsprechenden); T 441/04 (Zeugenaussage gemessen am strengen Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises); T 1682/09 (Verpackungssystem (des Einsprechenden) an einen Kunden geliefert und bei diesem aufgebaut); T 1914/08, T 738/04, T 1776/14 (die beiden Beteiligten hatten nicht gleichermaßen Zugang zu den Beweisen); T 2659/17 (angebliche Vorbenutzung durch Verkauf von durch den Einsprechenden vertriebenen Maschinen – dementsprechend hätte der Antrag des Patentinhabers auf Vernehmung des Verfassers einer strittigen Erklärung als Zeuge nicht abgelehnt werden dürfen).
In der Entscheidung T 918/11 (Nr. 3.3 der Gründe) wird die Rechtsprechung zum Beweismaßstab zusammengefasst und T 750/94 (ABl. 1998, 32) gegenübergestellt. Zudem betonte die Kammer in dieser Sache, dass berücksichtigt werden muss, dass die Anwendung des in der angefochtenen Entscheidung genannten strengen Beweismaßstabs nicht gerechtfertigt war, weil die tatsächliche Herstellung und der Verkauf der Behälter außerhalb des Einflussbereichs des Einsprechenden lagen. Außerdem befand die Kammer, dass die Anwendung des Beweismaßstabs des zweifelsfreien Nachweises nicht rechtfertigt, Zeugenaussagen außer Acht zu lassen (lange zurückliegende Vorgänge). In T 2451/13 (s. "Catchword") fasste die Kammer die Grundsätze des Beweismaßes bei öffentlicher Vorbenutzung zusammen und stellte fest, dass der Grundsatz des "lückenlosen" Nachweises ("up to the hilt") in T 472/92 bedeutet, dass der Sachverhalt "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen werden muss (in dieser Sache waren alle das Veröffentlichungsdatum der Broschüre betreffenden wesentlichen Beweismittel in der Sphäre des Einsprechenden zu finden – Broschüre der Tochtergesellschaft des Einsprechenden; s. auch dazu T 738/04).
Es muss bei Vorliegen eines begründeten Zweifels daran, wie das Ergebnis der Durchführung der wörtlichen Offenbarung und der Lehre einer Entgegenhaltung aussehen kann, bzw. wenn nach wie vor eine "Grauzone" besteht, der auf ein solches Dokument gestützte Fall der Vorwegnahme scheitern (T 793/93; s. auch T 464/94 und T 95/07).
In T 2010/08 merkte die Kammer an, dass der zweifelsfreie Nachweis einer Vorbenutzung auch nicht dadurch umgangen werden darf, dass der Ermittlungsgrundsatz überbeansprucht und die Beweislast vom Einsprechenden auf die Einspruchsabteilung bzw. Beschwerdekammer verlagert wird. (Zur Nachweispflicht des Einsprechenden in einem Fall, in dem aber das Abwägen der Wahrscheinlichkeit als Beweismaßstab für eine Vorbenutzung angewandt wurde, s. T 72/16, Nr. 19 der Gründe).
In T 703/12 erklärte die Kammer, dass alle zur Stützung der angeblichen öffentlichen Vorbenutzung (eines auf der Messe "Ambiente" in Frankfurt vorgestellten Tischwasserfilters) vorgebrachten Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen des Beschwerdeführers (Einsprechenden) unterlagen. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) bestritt, dass der Gegenstand der Offenbarung und die Umstände der Vorbenutzung zweifelsfrei nachgewiesen wurden. Auch die Kammer war nicht überzeugt, dass der Gegenstand der Offenbarung und die Umstände der angeblichen Offenbarung mit hinreichender Sicherheit, nämlich zweifelsfrei, nachgewiesen worden waren.
In T 483/17 lagen der Verkauf und die Lieferung von fünf Rollenlagern des Beschwerdeführers (Einsprechenden) an einen Dritten vollständig außerhalb der Verfügungsmacht des Beschwerdegegners (Patentinhabers), weswegen diese "bis aufs Letzte" nachzuweisen waren. Zur Feststellung der Vorbenutzung war also ein lückenloser Nachweis aller Tatsachen der geltend gemachten Vorbenutzung erforderlich (s. T 472/92, ABl. 1998, 161, Nr. 3.1 der Gründe), was jedoch nicht bedeutete, dass der Einsprechende wirklich jedes theoretisch denkbare Beweismittel vorlegen musste. Es genügte vielmehr, dass die vorgelegten Beweismittel die Kammer überzeugten. Nicht ausreichend nachgewiesen ist die Vorbenutzung allerdings, wenn es dem Patentinhaber gelingt, Widersprüche oder Lücken in der Beweiskette des Einsprechenden aufzuzeigen (s. T 472/92). Im vorliegenden Fall sah die Kammer die behauptete Vorbenutzung als erwiesen an, und weder die von der Einspruchsabteilung daran geäußerten Zweifel noch die vom Beschwerdegegner (Patentinhaber) vorgetragenen Argumente ließen Lücken in der Beweiskette des Einsprechenden erkennen.
T 274/12 betraf eine offenkundige Vorbenutzung (Gespräche zwischen zwei Firmen), und alle Beweismittel waren in der Sphäre des Einsprechenden zu finden. Außerdem hatte die Kammer zu entscheiden, ob eine stillschweigende Geheimhaltungsverpflichtung vorlag.
In T 202/13 wurden von den Beschwerdegegnern (Einsprechenden) mehrere offenkundige Vorbenutzungen geltend gemacht. Die Kammer stimmte dem Beschwerdeführer darin zu, dass der Maßstab "lückenlos" oder "zweifelsfrei" im vorliegenden Fall angemessen war. Einer der gemeinsamen Beschwerdegegner 2 war der Rechtsnachfolger des direkt in die angebliche Vorveröffentlichung involvierten Unternehmens. Der Beschwerdegegner 2 als Rechtsnachfolger war in voller Kenntnis der Vorgänge, die die angebliche Vorveröffentlichung ausmachten, und hatte uneingeschränkten Zugang zu den Informationsquellen.
In T 1469/08 machte der Beschwerdeführer (Einsprechende) als Stand der Technik eine angeblich öffentliche Vorbenutzung geltend, die in der Vermarktung von Verbundprothesen unter der Bezeichnung "PARP PU" vor dem Prioritätstag des Streitpatents bestanden habe. Obwohl die angebliche öffentliche Vorbenutzung auf den Einsprechenden selbst zurückging, stützte dieser die Zugänglichkeit der "PARP PU"-Prothesen für die Öffentlichkeit ausschließlich auf den Verkaufsverlauf. Angesichts dieser Sachlage bestanden ernsthafte Zweifel an der Existenz von Dokumenten, die belegten, dass die "PARP PU"-Prothese vor dem Prioritätstag des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich war. S. auch T 71/09, wo die Kammer auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern einging und die Entscheidungen T 750/94 und T 97/94 anführte. Der Beschwerdegegner (Einsprechende) machte eine offenkundige Vorbenutzung geltend, die der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands entgegenstehe. Diese Vorbenutzung ergab sich aus der Tätigkeit des Beschwerdegegners selbst, da die vorgebrachten Tatsachen auch den Verkauf des Produkts W. durch dessen eigene Firma mit einschlossen. Die Kammer befand, dass die vom Beschwerdegegner vorgelegten Beweismittel nicht ausreichten, um die Zusammensetzung des Produkts W. zweifelsfrei festzustellen.
In T 1776/14 erklärte der Einsprechende, dass die Offenbarung in seinem Interesse gewesen sei und impliziere, dass der öffentliche Charakter der Vorbenutzung sehr wahrscheinlich sei; angesichts der Umstände verwarf die Kammer jedoch die Auffassung des Einsprechenden und kam zu dem Schluss, dass das Abwägen der Wahrscheinlichkeit hier nicht anwendbar war, weil die beiden Beteiligten nicht gleichermaßen Zugang zu den Beweisen hatten.
In T 624/14 war die Analyse bestimmter vorbenutzter Erzeugnisse, auf der die Bestimmung des Inhalts (der internen Struktur) und mithin das Vorbringen des Beschwerdeführers (Einsprechenden) vollumfänglich basierten, von einem Angestellten des Beschwerdeführers vorgenommen worden und unterlag somit ausschließlich der Verfügungsmacht des Beschwerdeführers. Im Einspruchsverfahren hatte der Beschwerdegegner die Verlässlichkeit der Messungen des Beschwerdeführers angezweifelt und um Bereitstellung der konkreten, dem Vorbenutzungseinwand zugrunde liegenden und vermessenen Erzeugnisse gebeten, um eine eigene Analyse durchzuführen. Die Einspruchsabteilung hatte ähnliche Bedenken geäußert und befunden, dass eine bloße Inaugenscheinnahme (z. B. in der mündlichen Verhandlung) zur Ermittlung der internen Struktur nicht ausreiche. Es oblag sodann dem Beschwerdeführer, diese Zweifel durch die Bereitstellung der Muster zu entkräften. Da er diese nicht bereitstellte, bestanden weiterhin begründete Zweifel an Inhalt und Richtigkeit der von seinem Angestellten durchgeführten Analyse. Folglich war die angebliche Vorbenutzung nicht zweifelsfrei nachgewiesen.