3.1. Offenbarung der in der Nachanmeldung beanspruchten Erfindung in der Voranmeldung
Die ältere Rechtsprechung, die den sogenannten Offenbarungstest entwickelte, bleibt nach G 2/98 (ABl. 2001, 413) weiterhin anwendbar (s. z. B. T 184/84, T 81/87, ABl. 1990, 250, T 469/92, T 269/93, T 77/97). So haben insbesondere die Beschwerdekammern in T 311/93 und T 77/97 das Kriterium der zumindest impliziten Offenbarung angewandt, das für den Offenbarungstest nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 verwendet wurde. Andererseits wurde in G 2/98 der Ansatz von T 73/88 ("Snack-Produkt", ABl. 1992, 557; vgl. auch z. B. T 16/87, ABl. 1992, 212; T 582/91; T 255/91, ABl. 1993, 318; T 669/93; T 1056/93 und T 364/95) zurückgewiesen, wonach die Hinzufügung unwesentlicher, nur den Schutzbereich beschränkender Merkmale den Prioritätsanspruch nicht unwirksam macht (s. hierzu "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 3. Aufl. 1998, S. 258 ff. und 266 ff.). Der Grundsatz in G 2/98, dass das Kriterium der "Wesentlichkeit" nicht anwendbar ist, wurde z. B. in T 1852/13 (mit weiteren Verweisen) und T 2466/13 bestätigt.
Wie in G 2/98 (ABl. 2001, 413) festgestellt, bestimmt sich der Umfang des Prioritätsrechts danach und beschränkt sich zugleich darauf, was in der früheren Anmeldung offenbart ist. In T 923/00 hatte die Kammer in Anwendung von G 2/98 befunden, dass die eingereichte Anmeldung und die Prioritätsunterlage im Wesentlichen identisch waren. Sie betonte, dass jegliche Entscheidung für oder gegen die Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 eine Entscheidung für oder gegen das Recht auf die beanspruchte Priorität sei und prüfte daher beide Fragen gemeinsam.
In den nachfolgenden "Disclaimer"-Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 (ABl. 2004, 413 und 448) befand die Große Beschwerdekammer, dass zur Vermeidung von Unstimmigkeiten die Offenbarung als Grundlage für das Prioritätsrecht nach Art. 87 (1) EPÜ 1973 genauso zu interpretieren ist wie als Grundlage für Änderungen in der Anmeldung nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 (s. auch G 2/10, ABl. 2012, 376). Das bedeutet, dass ein Disclaimer, der keinen technischen Beitrag leistet und bei der Bearbeitung einer europäischen Patentanmeldung zugelassen wird, die Identität der Erfindung im Hinblick auf Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht ändert. Daher ist seine Aufnahme auch bei der Abfassung und Einreichung einer europäischen Patentanmeldung zulässig, ohne dass dadurch das Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung berührt wird, die den Disclaimer nicht enthält (s. auch T 175/03 und T 910/03). In den späteren "Disclaimer"-Entscheidungen G 2/10 (ABl. 2012, 376) und G 1/16 (ABl. 2018, A70) betonte die Große Beschwerdekammer erneut die Wichtigkeit eines einheitlichen Offenbarungskonzepts ("Goldstandard-Offenbarungstest"). S. auch T 437/14 vom 12. März 2019 date: 2019-03-12 im nachstehenden Abschnitt II.D.5.3.3 und T 600/16.
Zur Anwendung des Offenbarungstests im Kontext von Art. 123 (2) EPÜ s. Kapitel II.E. "Änderungen".
Die folgende Einschränkung wurde in T 282/12 gemacht, die sich auf "Teilpriorität" bezog (vgl. auch G 1/15, ABl. 2017, A82): Die Beurteilung der Priorität mittels eines Tests nach Art. 123 (2) EPÜ könne unter bestimmten Umständen zu falschen Schlussfolgerungen führen, denn es gebe kein Konzept einer "Teilgültigkeit" von Änderungen, wohl aber das einer "Teilpriorität" (s. ausführliche Zusammenfassungen dieser Entscheidung in Kapitel II.D.4.1. und II.D.5.3.3 unten).
- T 1762/21
Catchword:
For assessing an intermediate generalisation in an amended claim for compliance with Article 123(2) EPC it has to be established whether, because of this generalisation, the subject-matter of the claim extends beyond what was, be it explicitly or implicitly, directly and unambiguously disclosed to the person skilled in the art using common general knowledge in the application as filed. This is the "gold" standard for assessing any amendment for its compliance with Article 123(2) EPC (G 2/10, point 4.3 of the Reasons). If an amended claim comprises only some features of an originally disclosed combination and the features left out of the claim were understood, by the person skilled in the art, to be inextricably linked to the claimed ones, the claim includes subject-matter extending beyond the application as filed. This is the case if the person skilled in the art would have regarded the omitted features to be necessary for achieving the effect associated with the added features. In such a situation the amended claim conveys the technical teaching that the effect can be obtained with the claimed features alone, which is in contrast with and extends beyond the original disclosure that the whole combination of features was needed. The criteria for assessing the validity of a priority for the subject-matter of a claim as set out in G 2/98, no matter whether or not the claim includes intermediate generalisations, correspond to the "gold" standard for assessing any amendment for its compliance with Article 123(2) EPC. In view of Article 88(4) EPC, it is not required that this subject-matter be disclosed in the form of a claim or in the form of an embodiment or example specified in the description of the application from which the priority is claimed. In the passage in point 4 of the Reasons of G 2/98 these items, as derived from the expression "in particular", are simply listed as exemplary parts of the application documents. (Reasons, points 2.4 and 3.2)