1.2. Anwendung der Auslegungsregeln
Ziel und Zweck des Ausschlusses nach Art. 53 b) EPÜ sind nicht so offensichtlich, dass sich die Frage beantworten lässt, ob die Vorschrift eng oder weit auszulegen ist. Die Große Beschwerdekammer befand, dass nach Art. 31 (3) des Wiener Übereinkommens jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder seine Anwendung und jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen sind. Sie wies darauf hin, dass R. 26 (5) EPÜ (vormals: R. 23b (5) EPÜ 1973) als eine solche spätere Übereinkunft oder Übung betrachtet werden könnte. R. 26 (1) EPÜ sieht ausdrücklich die Heranziehung der Biotechnologierichtlinie vor (s. G 2/06, Nr. 16 der Gründe).
Der Beschluss zur Genehmigung der R. 28 (2) EPÜ konnte nicht als spätere Übereinkunft zwischen den Parteien betrachtet werden, die zur Auslegung des Vertrags im Sinne des Art. 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens heranzuziehen ist (T 1063/18). In der Stellungnahme G 3/19 (ABl. 2020, A119, Nr. XIX der Gründe) heißt es, die Schlussfolgerung der Kammer in T 1063/18 scheine darauf zu beruhen, dass die Große Beschwerdekammer in G 2/12 eine definitive Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses getroffen habe, die nur durch eine förmliche Änderung des Artikels 53 b) EPÜ selbst aufgehoben werden könne. Diese Sichtweise, die laut G 3/19 weder vom EPÜ selbst noch von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt werde, sei jedoch zu streng, wenn man bedenke, dass Art. 53 b) EPÜ auslegungsoffen sein solle und dass zudem eine später erlassene Regel, die von einer bestimmten Auslegung eines Artikels des EPÜ durch eine Beschwerdekammer abweicht, nicht für sich genommen ultra vires sei (s. T 315/03). Eine bestimmte Auslegung einer Rechtsvorschrift sei niemals in Stein gemeißelt, weil sich die Bedeutung der Vorschrift im Laufe der Zeit ändern oder weiterentwickeln könne. Dieser Aspekt sei der laufenden Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung immanent. G 3/19 erkannte in der Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ eine eindeutige gesetzgeberische Absicht im Sinne des Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens, die nicht außer Acht gelassen werden dürfe; was Art. 31 (3) a) und b) des Wiener Übereinkommens anbelange, seien legislative und administrative Entwicklungen in rund einem Viertel der Vertragsstaaten keine spätere Übereinkunft oder spätere Übung.