4.3.2 Offenkundige Vorbenutzung
In T 674/91 erklärte die Kammer, dass alle Vorbringen (Versicherungen oder Erklärungen) zur angeblichen Vorbenutzung, die von unterschiedlichen Zeugen stammten und miteinander übereinstimmten, den kommerziellen Charakter der genannten Tests bereits hinreichend bewiesen. Eine Verschwiegenheitspflicht konnte nicht bestanden haben, weil der Zugang zu diesem neuen Instrument nicht auf eine bestimmte Personengruppe begrenzt war. Die Kammer schloss, dass es sich bei der Vorbenutzung um einen Stand der Technik im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 handelte.
In T 1682/09 befand die Kammer, dass das Vorliegen des Dokuments eines Dritten, das die Benutzung bestätigte, ein sehr starker Beweis für diese Benutzung gewesen wäre; das bloße Fehlen eines solchen unabhängigen Beweises sei allerdings kein ausreichender Grund, eine behauptete Vorbenutzung auszuschließen.
In T 1452/16 betraf die angebliche Vorbenutzung ein Erzeugnis, das nach übereinstimmender Meinung aller Beteiligten kommerziell erhältlich war. Für den Patentinhaber war es somit leicht, an Muster zu gelangen und diese zu testen. Obwohl der vorliegende Fall unter das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" fiel, stützte die Kammer ihre Meinung nicht ausschließlich auf die Frage, ob die behaupteten Tatsachen die wahrscheinlichsten waren, sondern ob sie davon überzeugt war, dass die Tatsachen der Wirklichkeit entsprachen.
In T 225/03 hatte die Einspruchsabteilung keine Beweisaufnahme durch Anhörung des Zeugen durchgeführt, bevor sie das Patent widerrief, weil die behauptete offenkundige Vorbenutzung ihrer Meinung nach durch die Beweisunterlagen hinreichend erwiesen war. Die Kammer, die diesen Beweismaßstab als unzureichend einstufte, befand, dass dem Antrag des Beschwerdegegners auf eine zu den Beweisunterlagen ergänzende Zeugenvernehmung stattzugeben sei, da nur der Zeuge die Verbindungen zwischen den einzelnen Beweismitteln und die in seiner eidesstattlichen Versicherung erläuterten Umstände der Verwendung bestätigen könne. Die Angelegenheit wurde zur weiteren Behandlung an die erste Instanz zurückverwiesen.
In T 441/04 hat die Kammer dem Beschwerdegegner (Patentinhaber) zwar zugestimmt, dass die Beweisführung durch Vorlage von Dokumenten im Vergleich zu Zeugenaussagen über lange zurückliegende Vorgänge in der Regel vorzugswürdiger sein dürfte. Dies bedeutete aber nicht automatisch im Umkehrschluss, dass eine Beweisführung mittels Zeugenaussagen in der vorliegenden Fallkonstellation per se ausgeschlossen oder weniger überzeugend wäre als ein Dokumentenbeweis. Nach Auffassung der Kammer wurde dem Umstand, dass die behauptete und durch Zeugenaussagen bewiesene offenkundige Vorbenutzung auf den Beschwerdeführer zurückging, dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass der (hohe) Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises zugrunde gelegt wurde. Sofern diesem Beweismaßstab durch die vorgelegten Beweismittel Genüge getan wird, muss ein durch bestimmte Beweismittel, vorliegend im Wesentlichen in Form von Zeugenaussagen, zweifelsfrei nachgewiesener Sachverhalt nicht erneut oder zusätzlich dazu durch weitere Beweismittel, wie z. B. die Vorlage von Zeichnungen, bewiesen werden.
Im Fall T 1914/08 erachtete die Kammer die Aussagen der beiden Zeugen als die entscheidenden Beweismittel, so wie schon die Einspruchsabteilung, durch die die behauptete offenkundige Vorbenutzung lückenlos nachgewiesen worden war. Beide Zeugenaussagen ergaben jede für sich betrachtet im Hinblick auf das nachzuweisende Verfahren ein konsistentes und vollständiges Bild. Insofern waren die Beweiswürdigung durch die Einspruchsabteilung, der dabei zugrunde gelegte Beweismaßstab ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit") sowie das Ergebnis der Beweiswürdigung als zutreffend anzusehen. Ferner konnte der Forderung des Patentinhabers (Beschwerdeführers) nach zusätzlichen Beweismitteln nicht zugestimmt werden. Da die Einspruchsabteilung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen war, dass die behauptete offenkundige Vorbenutzung im Wesentlichen durch die beiden Zeugenaussagen bewiesen worden war, und es die Beschwerdeführerin nicht vermochte, die Beweiskraft dieser Zeugenaussagen zu erschüttern, bestand für den Einsprechenden (Beschwerdegegner) weder im Einspruchsverfahren noch im Beschwerdeverfahren eine Veranlassung zum Einreichen weiterer Beweismittel.
In T 833/99 machte der Einsprechende (Beschwerdeführer) mangelnde Neuheit geltend und berief sich auf die Offenbarung eines identischen Verfahrens durch eine Vorbenutzung, genauer gesagt durch den Verkauf von Schienenherzstücken in verschiedenen deutschen Städten und deren Installation in diesen Städten über einen bestimmten Zeitraum. Die Einspruchsabteilung hatte diesen Einwand als unbegründet zurückgewiesen, weil die Offenbarung nicht ausreichend bewiesen wurde. Bezüglich der angeblichen mangelnden Neuheit des Herstellungsverfahrens stützte sich der Einsprechende auf zwei Fotos (von Schienenherzstücken) im Format 6 x 6 cm auf den Innenseiten eines Prospekts. Diese Fotos waren zu ungenau, als dass sie hätten bestätigen können, dass die Kanten nicht auch durch Brennschneiden hätten erzielt werden können. Die Mitarbeiter der betreffenden Städte waren im Rahmen der Ausschreibungen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Mögliche Verstöße gegen diese Verschwiegenheitspflicht, beispielsweise die Unterrichtung von Monteuren über einzelne Schritte des Verfahrens, wurden vom Beschwerdeführer ebenfalls angeführt, aber nicht durch konkrete Fakten wie Daten oder Umstände oder durch Beweismittel bestätigt. Eine solche Mutmaßung kann daher nicht berücksichtigt werden, weil sie kein Beweismittel ist und der Beschwerdeführer die Stichhaltigkeit seiner Behauptungen nachzuweisen hat (T 782/92; T 472/92, ABl. 1998, 161). Auf die Behauptung, die grundsätzliche Vertraulichkeit des Ausschreibungsverfahrens sei mit diesem beendet, erwiderte die Kammer, dass dies nicht rechtlich erwiesen sei.
Merkmale eines nur für einen kurzen Zeitraum sichtbaren Gegenstands sind nur dann der Öffentlichkeit zugänglich geworden, wenn zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass für den Fachmann in diesem kurzen Zeitraum die Merkmale eindeutig und unmittelbar zu erkennen waren (T 1410/14: Zug – Testfahrt).
In T 2565/11 betraf die Erfindung ein Verfahren zum Betrieb eines Ventilators und einer Klimaanlage für ein Fahrzeug. Es wurde nicht bestritten, dass die Züge, die Gegenstand der angeblichen Vorbenutzung waren, tatsächlich an DB Regio AB ausgeliefert und öffentlich betrieben wurden. Bestritten wurde allerdings, dass Informationen zur Lüftungs- und Klimaanlage dieser Züge durch die Auslieferung und den Betrieb der Züge im Sinne von Art. 54 EPÜ veröffentlicht wurden und dass Aufbau und Bedienung der Lüftungs- und Klimaanlage vom Einsprechenden hinreichend belegt wurden. Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Entscheidung festgestellt, dass die angebliche offenkundige Vorbenutzung nicht zweifelsfrei nachgewiesen sei. Die Beschwerdekammer hob die Beweiswürdigung der ersten Instanz mit der Begründung auf, dass sich die Einspruchsabteilung in Bezug auf die zugrunde liegenden Tatsachen geirrt und keine widerspruchsfreie Bewertung abgegeben hatte. Die Beschwerdekammer gab ihre eigene Beweiswürdigung in Bezug auf die maßgebenden Tatsachen ab. Die Kammer befand, dass die wesentlichen Tatsachen, die der Zeuge in Bezug auf die beanspruchten strukturellen Merkmale vorgebracht hatte, selbst bei Anlegen eines hohen Beweismaßstabs ("zweifelsfrei") nicht infrage gestellt werden konnten.
Die folgenden Entscheidungen behandeln die Anwendung der ursprünglich in der Frage der Vorbenutzung ergangenen Rechtsprechung der Kammern zum strengen Beweismaßstab auch auf andere Fälle, nämlich die Zugänglichkeit von Dokumenten (T 1107/12) oder den Nachweis des Übergangs des Prioritätsrechts (T 1201/14).
S. auch Kapitel V.A.4.4.6 g) "Verspätet vorgebrachte Beweismittel für eine offenkundige Vorbenutzung – nicht zugelassen".