4.3. Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
Overview
- R 10/20
Catchword:
Artikel 113(1) EPÜ verlangt, dass die Kammer Vorbringen eines Beteiligten in der Sache berücksichtigt hat, d.h. - erstens, dass sie das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis genommen und - zweitens dieses Vorbringen erwogen hat, d.h. geprüft hat, ob es relevant und ggf. richtig ist. Es wird vermutet, dass eine Kammer das Vorbringen eines Beteiligten in der Sache berücksichtigt hat, welches sie in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hat. Denn dann ist anzunehmen, dass es aus ihrer Sicht nicht relevant war. Diese Vermutung kann widerlegt sein, wenn Anzeichen für eine Nicht-Berücksichtigung vorliegen, z.B. wenn eine Kammer in den Entscheidungsgründen das Vorbringen eines Beteiligten nicht behandelt, welches objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles ist, oder derartiges Vorbringen von der Hand weist, ohne es zuvor auf seine Richtigkeit zu überprüfen. (Siehe Nr. 3.2.1.1; Weiterführung von R 8/15, R 10/18 und R 6/20) Der Charakter eines Vorbringens als objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles muss sich aufdrängen. Das folgt daraus, dass das Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ grundsätzlich nicht der Überprüfung des materiellen Rechts dient, weswegen Ausnahmen von diesem Grundsatz nur unter strengen Voraussetzungen zuzulassen sind. (Siehe Nr. 3.2.1.2)
- R 6/20
Catchword:
1. The Enlarged Board of Appeal affirms its previous decisions R 8/15 and R 10/18. 2. Catchword 1, second paragraph, of R 10/18 reading: "Article 113(1) EPC is infringed if the board does not address submissions that, in its view, are relevant for the decision in a manner adequate to show that the parties were heard on them, i.e. that the board substantively considered those submissions..." is complemented as follows: the requirement that "the Board substantively considered those submissions" should be given the meaning that "the Board considered the contents of those submissions", with this consideration comprising matters - pertaining to admittance of facts, evidence and requests, and/or - relating to substantive law, i.e. the merits of a case. (See Reasons, point 2). 3. Article 12(4) RPBA 2007 is in line with Articles 114(1) and 113(1) EPC. (See Reasons, point 3.2.2(a) in fine.)
- R 12/22
Zusammenfassung
Der Antrag auf Überprüfung in R 12/22 wurde darauf gestützt, dass die angefochtene Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Die Große Beschwerdekammer (GBK) erörterte zunächst, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach R. 102 g) EPÜ nicht von Art. 112a (2) d) EPÜ erfasst sei. Sie verwies auf die in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Grundsätze zum Umfang der Begründungspflicht. Die von der Antragstellerin zitierte Aussage aus der Kommentarliteratur, das Korrelat zum Äußerungsrecht nach Art. 113 (1) EPÜ bilde die Pflicht, die Entscheidungen zu begründen, müsse im Einklang mit diesen Grundsätzen stehen. Eine Behandlung des Geäußerten in den Entscheidungsgründen sei nur unter den in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Voraussetzungen vom Recht auf rechtliches Gehör gefordert. Hingegen beinhalte das Recht auf rechtliches Gehör neben dem Äußerungsrecht das Recht auf Berücksichtigung des Geäußerten. Wenn ein Schlagwort zur Charakterisierung dieser Beziehung als nützlich empfunden werden sollte, dann würde sich der Kammer zufolge der Begriff "Korrelat" hier eignen.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ, stellte die GBK fest, dass die Antragstellerin sich weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen hatte, weshalb der Überprüfungsantrag diesbezüglich für unbegründet befunden wurde.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) c) EPÜ, befand die GBK unter anderem Folgendes:
G 1/21 habe klargestellt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bedeute. Die Auffassung der Antragstellerin, eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit stelle bereits einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar, stehe in diametralem Gegensatz zu G 1/21. In Bezug auf Art. 15a VOBK betonte die GBK, dass eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen könne, wenn ein konkreter praktischer Mangel weder behauptet noch ersichtlich sei.
In Bezug auf die beanstandete Zulassung des Vortrags einer Begleitperson stellte die GBK klar, dass es auf einen abstrakten Verstoß gegen die in G 4/95 aufgestellten Zulassungsvoraussetzungen bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör nicht ankommen könne. Denn letzteres Recht beziehe sich auf die Möglichkeit, auf den Inhalt konkreter Äußerungen angemessen reagieren zu können, nicht auf das Recht, diesen Inhalt durch eine zum umfassenden Vortrag berechtigte und von einem zugelassenen Vertreter hierbei beaufsichtigte Begleitperson präsentiert zu bekommen.
In Bezug auf den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge der kurzfristigen Umbesetzung der zuständigen Beschwerdekammer stellte die GBK unter anderem fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folge, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen.
Zu dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge einer "fehlerhaften und widersprüchlichen Beurteilung" des streitpatentgemäßen Gegenstands, stellte die GBK klar, dass dies nur dann beanstandet werden könnte, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit wären, dass die Kammer das Vorbingen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hätte und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles gewesen wäre. Dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend mit einer Nicht-Begründung ist, müsse sich aufdrängen.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als offensichtlich unbegründet verworfen.
- R 8/19
Zusammenfassung
In R 8/19 the petitioner (opponent 1) claimed that its right to be heard had been fundamentally violated. It had allegedly only learnt from the written reasons of the decision that, when acknowledging inventive step with respect to auxiliary request 1, the board had redefined the objective technical problem; and the board had allegedly done this in a completely unexpected manner. The petitioner argued that unless an opponent knew how the problem was being defined, it was impossible to present arguments on inventive step.
First of all, the Enlarged Board of Appeal (EBA) recalled that decisions of a board of appeal may only be based on grounds or evidence on which the parties have had an opportunity to present their comments (Art. 113(1) EPC) and a party must not be taken by surprise by the reasons for the decision referring to unknown grounds or evidence. The right to be heard is observed if a party has had the opportunity to comment on the decisive considerations and the relevant passages of the prior art on which a decision is based (see e.g. R 16/13). On the other hand, the board must be able to draw its own conclusion from the discussion of the grounds put forward (R 8/13, R 16/13). Thus, the right to be heard does not go so far as to impose an obligation on a board to disclose to the parties, in advance, how and why, on the basis of the decisive issues under discussion – or at least those foreseeable as the core of the discussion – it will come to its conclusion. This is part of the reasoning given in the written decision (R 1/08, R 15/12, R 16/13).
In the present case, a cornerstone of the board's inventive step reasoning with respect to claim 1 of auxiliary request 1 was the construction of the objective problem to be solved by the claimed subject-matter. While not following the proprietor's and petitioner's views, the board had considered that the objective problem solved was the provision of a pharmaceutical formulation with a zero order release profile.
According to the EBA, whether the board's reliance on an objective problem that had never been mentioned to the petitioner amounted to a fundamental violation of the right to be heard could not generally be answered in the affirmative. The EBA argued that the right to be heard in the context of the problem-solution approach meant that there should normally have been a discussion on the relevant prior art, the differences between the prior art and the claimed invention, and the technical relevance of these differences. Within the framework of what had been addressed in the course of these discussions, the deciding organ should be free to apply the problem-solution approach as it sees fit, and even identify an objective problem that had not been explicitly spelled out as such during the proceedings. In any case, the objective problem eventually used in the reasoning had to be based on technical effects (or the lack of any) and the features of the invention causally linked to such effects, upon which the parties had had an opportunity to comment.
With respect to auxiliary request 1 and the board's decision on inventive step, which had given rise to the petition, the EBA concluded that the board had based its decision only on grounds that had been objectively foreseeable by the parties, in view of their submissions and the board's statements during the appeal proceedings.
The EBA reasoned that during the entire proceedings leading to the decision under review, the zero order release profile – the provision of which had been eventually adopted by the board as the objective technical problem – had been discussed, either as a quality of the erosion matrix or as a feature that was desirable per se. According to the file, the discussion on the main request had covered the zero order release profile in connection with the disputed distinguishing feature, the erosion matrix. Not only the problem eventually used in the context of auxiliary request 1 (to achieve a zero order release profile) but also the solution (the use of a water-soluble polymer) had been explicitly discussed in the context of the main request. The EBA held that the facts and evidence underlying the board's decision on auxiliary request 1 had been discussed in a way that had given the petitioner sufficient opportunities to be heard.
The EBA concluded that no fundamental violation of Art. 113 EPC had occurred, since the parties had had the opportunity to comment upon the grounds and evidence on which the decision under review was based, in particular, on the additional limiting feature of auxiliary request 1 and the technical effect eventually used by the board in its application of the problem-solution approach.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”