4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Bei der Anwendung von Art. 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 überprüfen die Kammern im Einspruchsbeschwerdeverfahren auch die Bewertung des Vorbringens als verspätet und prüfen, ob die Einspruchsabteilung zu Recht keine Rechtfertigung für die späte Einreichung gesehen hatte.
In T 214/20 beispielsweise stimmte die Kammer mit der Einspruchsabteilung darin überein, dass die vom Patentinhaber in Erwiderung auf ein bestimmtes Argument des Einsprechenden vorgelegten Schriftstücke als verspätet eingereicht anzusehen waren, weil dieser sie bereits hätte einreichen müssen, als das Argument erstmal vorgebracht wurde.
In T 1017/20 erklärte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung das Ermessen hatte, verspätet eingereichte Anträge nach R. 116 (1) und (2) EPÜ nicht zuzulassen. Den Einwand, der mit dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrag angeblich ausgeräumt werden sollte, hatte der Einsprechende bereits in seiner Einspruchsschrift erhoben, und er war auch in der Ladung zur mündlichen Verhandlung thematisiert worden. Somit war die Einreichung des Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung nicht durch unerwartete Entwicklungen gerechtfertigt und folglich verspätet.
Ein Gegenbeispiel findet sich in T 290/20. In dieser Sache hatte der Einsprechende das Dokument D6 nach dem von der Einspruchsabteilung gemäß R. 116 EPÜ festgesetzten Zeitpunkt und weniger als vier Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereicht, und zwar nach eigener Aussage als Reaktion auf die verspätete Einreichung des (einen einzigen unabhängigen Verfahrensanspruch umfassenden) Hilfsantrags 4 durch den Patentinhaber. Die Einspruchsabteilung hatte D6 nicht zugelassen, weil es ihrer Auffassung nach früher hätte vorgelegt werden können und nicht relevanter war als andere bereits im Verfahren befindliche Dokumente. Die Beschwerdekammer dagegen ließ D6 zum Verfahren zu. Die Einreichung des Hilfsantrags 4 kurz vor der mündlichen Einspruchsverhandlung und die vom Patentinhaber vorgebrachten Argumente zur Stützung des erfinderischen Charakters von Anspruch 1 dieses Antrags stellten eine Änderung des Verlaufs des Einspruchsverfahrens dar, die die Einreichung eines neuen Dokuments durch den Einsprechenden als Reaktion darauf rechtfertigte.
Ausführlich zum Thema verspätete Einreichung von Haupt- und Hilfsanträgen des Patentinhabers im Einspruchsverfahren siehe Kapitel IV.C.5.1.4 und von Einwänden und Beweismitteln im Einspruchsverfahren siehe Kapitel IV.C.4.3.