2.4.2 Materielle Beschwerdeberechtigung (Artikel 107 EPÜ)
In T 457/89 war die Kammer der Auffassung, dass der Beschwerdeführer (Patentinhaber) durch die Widerrufsentscheidung analog zu G 1/88 (ABl. 1989, 189) beschwert sei, obwohl er auf eine Aufforderung der Einspruchsabteilung gemäß Art. 101 (2) EPÜ 1973 hin zu einem Bescheid nicht innerhalb einer bestimmten Frist Stellung genommen hatte. Nach der Entscheidung G 1/88 werde nämlich im EPÜ 1973 ein eventueller Rechtsverlust als Folge einer Unterlassung immer ausdrücklich angegeben. In Art. 101 (2) EPÜ 1973 sei jedoch ein solcher Rechtsverlust nicht vorgesehen.
In T 73/88 (ABl. 1992, 557) stellte die Kammer Folgendes klar: Wird im Einspruchsverfahren dem Antrag eines Patentinhabers auf Aufrechterhaltung des Patents von der Einspruchsabteilung stattgegeben, so steht ihm gegen eine ihn belastende Feststellung in der Entscheidungsbegründung (hier zu seinem Prioritätsanspruch) keine Beschwerde zu, weil er durch die Entscheidung nicht im Sinne von Art. 107 EPÜ 1973 beschwert ist.
Einem der Grundsätze zufolge, die das grundlegende Rechtsgut der Rechtssicherheit im Verfahren verkörpern, gilt ein Beteiligter durch eine Entscheidung, mit der seinem Schlussantrag stattgegeben wird, nicht als beschwert im Sinne von Art. 107 EPÜ 1973. Ein Antrag auf Berichtigung einer Unterlage gemäß R. 88 EPÜ 1973 als alleiniger Grund für die Beschwerde ist unzulässig (T 824/00, ABl. 2004, 5). In diesem Fall hatte der Patentinhaber gemäß R. 88 EPÜ 1973 (R. 139 EPÜ) eine Berichtigung seines Schreibens beantragt, mit dem er sämtliche Anträge zurückgenommen hatte (s. auch T 961/00 und J 17/04).
In T 528/93 wurde ein Antrag im Laufe des Einspruchsverfahrens zurückgenommen und war daher nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung. Die Kammer urteilte, dass ein im Beschwerdeverfahren eingereichter nahezu identischer Antrag nicht Gegenstand der Beschwerde war, weil der Beschwerdeführer hinsichtlich dieses Antrags durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht beschwert war.
Für die Feststellung, ob ein Beteiligter durch eine Entscheidung beschwert ist, genügte es nach Auffassung der Kammer in T 327/13 nicht, das Endergebnis isoliert zu betrachten; vielmehr war der gesamte Sachvortrag des Beteiligten im Sinne des Art. 12 (2) VOBK 2007 in Verbindung mit dem Inhalt der Entscheidung zu berücksichtigen. Zwar seien die Beschwerdeführer durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung, ihrem damaligen Hauptantrag nicht stattzugeben, eindeutig beschwert, doch hätten sie diese Entscheidung nicht angefochten. Sie könnten daher nicht als "beschwert" im Sinne des Art. 107 EPÜ gelten.
Das Argument, dass der Patentinhaber nachträglich durch eine im nationalen Verfahren entdeckte frühere Offenbarung beschwert worden sei, wurde in T 591/05 zurückgewiesen – mit der Erteilung des Patents habe die erste Instanz dem seinerzeit gültigen Antrag des Beschwerdeführers entsprochen.
In T 332/06 wurde die Beschwerde des Patentinhabers, die im Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung zulässig war, mit Eingang der Beschwerdebegründung unzulässig. Mit der Beschwerdebegründung hatte der Patentinhaber nämlich nur den die Ansprüche für den Vertragsstaat DE betreffenden Teil der Entscheidung angegriffen. Die von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Ansprüche für DE waren jedoch mit den entsprechenden Ansprüchen gemäß dem Hauptantrag des Patentinhabers identisch, der nur in Bezug auf die restlichen Vertragsstaaten verworfen wurde. Bezüglich DE lag daher für den Patentinhaber keine Beschwer vor.
In T 1783/12 wurde der Hauptantrag, den Einspruch als unzulässig zu verwerfen, von der Einspruchsabteilung zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) war demzufolge in Bezug auf diesen prozeduralen Aspekt beschwert. Allerdings wurde in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt, aus welchen Gründen dieser Aspekt der Entscheidung aufzuheben sei. Die Beschwerdebegründung befasste sich nämlich ausdrücklich und ausschließlich mit den Gründen, weshalb das Patent in der erteilten Fassung aufrecht zu erhalten sei. Zudem hatte der Patentinhaber im erstinstanzlichen Verfahren beantragt, das Patent in geändertem Umfang aufrecht zu erhalten. Diesem Antrag wurde entsprochen. Zusammenfassend stellte die Kammer fest, dass zum gemäß Art. 108 EPÜ maßgeblichen Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerdebegründung: a) die Anfechtung der Entscheidung, den Einspruch als unzulässig zu verwerfen, nicht begründet war und b) dem materiellrechtlichen Antrag, das Patent in erteiltem Umfang aufrecht zu erhalten, keine Beschwer im Sinne von Art. 107 EPÜ zu Grunde lag. Demnach war die Beschwerde unzulässig.
In T 611/15 hatte die Einspruchsabteilung das Patent in geänderter Form auf der Grundlage des Hilfsantrags VIII aufrechterhalten. Der Patentinhaber hatte argumentiert, dass er nur die vor der mündlichen Verhandlung schriftlich eingereichten Hilfsanträge zurückgenommen habe, nicht aber den Hauptantrag. Laut Niederschrift hatte jedoch der Vertreter des Patentinhabers erklärt, er werde alle übrigen Anträge zurücknehmen, sodass der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag VIII den Haupt- und auch den einzigen Antrag des Patentinhabers darstellte. Da kein Antrag auf Berichtigung der Niederschrift vorlag, ging die Kammer davon aus, dass die dortigen Aussagen den Status der Anträge des Patentinhabers exakt wiedergaben. Da die Entscheidung über diesen Antrag zugunsten des Patentinhabers ausfiel, war der Patentinhaber durch die Entscheidung folglich nicht beschwert.
- T 1558/21
Catchword:
1. Entspricht der Antrag, der der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde liegt, zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht dem Willen einer Partei, so ist diese Partei beschwert und ihre Beschwerde gegen die Entscheidung zulässig (Punkt 1.1 der Entscheidungsgründe). 2. Die Kammer sieht es als erwiesen an, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht auf der beabsichtigten Fassung des Hilfsantrags beruht, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde. Im vorliegenden Fall hat die Einspruchsabteilung entweder über den falschen Antrag entschieden, der nicht dem Tenor der Entscheidung entspricht, oder aber über einen Antrag, zu dem die Parteien nicht gehört wurden. Beides stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, und daher ist die Entscheidung aufzuheben (Punkte 3.4 - 3.6 der Entscheidungsgründe). 3. Ein Fehler in einem während der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatz, der Teil einer in der mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung geworden ist, ist weder einer späteren Korrektur über Regel 140 EPÜ zugänglich, noch über Regel 139 EPÜ, sofern es ihm an der Offensichtlichkeit mangelt (Punkte 5.1 - 5.5 der Entscheidungsgründe).