4. Unterbrechung des Verfahrens (Regel 142 EPÜ)
Nach R. 142 (1) b) EPÜ (R. 90 (1) b) EPÜ 1973) wird das Verfahren vor dem EPA unterbrochen, wenn der Anmelder oder Patentinhaber aufgrund eines gegen sein Vermögen gerichteten Verfahrens aus rechtlichen Gründen verhindert ist, das Verfahren vor dem EPA fortzusetzen. Eine Unterbrechung nach R. 142 (1) b) EPÜ dient nicht nur den Interessen des Patentinhabers, sondern auch denen seiner Gläubiger. Diese Interessen sollen dadurch geschützt werden, dass die Regelung jede Rechtshandlung, sei es durch den Patentinhaber oder durch das EPA, zu verhindern sucht, die geeignet ist, das Patent als Vermögensgegenstand zu beeinträchtigen (T 1389/18). Zu Fällen, in dem ein Einsprechender die Unterbrechung des Verfahrens wegen Konkurses beantragt hat, s. T 1533/07 und T 516/14 (es ist nicht gerechtfertigt, R. 142 (1) b) EPÜ per Analogie auf einen Einsprechenden anzuwenden).
In J 12/19 vertrat die Kammer die Auffassung, dass der Einsprechende (Beschwerdeführer) am Wiederaufnahmeverfahren beteiligt sei. Wo das Einspruchsverfahren unterbrochen wird und die Rechtsabteilung das Verfahren wiederaufnimmt oder die Wiederaufnahme des Verfahrens ablehnt, hat der Ausgang des Wiederaufnahmeverfahrens unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Einsprechenden. Im Wiederaufnahmeverfahren ist der Einsprechende Beteiligter am Haupteinspruchsverfahren. Jede Entscheidung, die im zwischenzeitlichen Wiederaufnahmeverfahren getroffen wird, kann die Rechtsstellung des Einsprechenden (nachteilig) beeinflussen. Vom Einsprechenden kann nicht verlangt werden, dass er seine Rechte erst später im wiederaufgenommenen Haupt(einspruchs)verfahren verteidigt. Dies würde das Verfahren verzögern und könnte zusätzliche Kosten verursachen.
Entscheidend für die Unterbrechung nach R. 142 (1) b) EPÜ ist das Kriterium, ob das gegen das Vermögen gerichtete Verfahren den Anmelder aus rechtlichen Gründen daran hindert, das Verfahren fortzusetzen (J 26/95, J 16/05).
In T 854/12 hielt die Kammer fest, dass R. 142 (1) b) EPÜ auf Fälle anwendbar ist, in denen der Patentinhaber, der in der Verfahrensführung zunächst nicht beschränkt war, nun "verhindert ist, das Verfahren fortzuführen"; die Vorschrift lässt sich aber nicht auf Fälle anwenden, in denen ein Patent mit Zustimmung des Insolvenzverwalters auf einen schon verfügungsbeschränkten Patentinhaber übertragen wird, der damit auch nicht selbst Partei des Verfahrens wird, sondern für den von Anfang an der in seiner Verfügungsgewalt nicht beschränkte Insolvenzverwalter handelt.
In J 9/90 entschied die Juristische Beschwerdekammer, dass eine Anwendung von R. 90 (1) b) EPÜ 1973 mit Rücksicht auf Art. 60 (3) EPÜ 1973 und R. 20 (3) EPÜ 1973 die rechtliche Identität des im Europäischen Patentregister eingetragenen Anmelders und der vom Konkurs betroffenen Person (hier eine GmbH) voraussetzt. Vgl. J 16/05.
In den Entscheidungen J 9/94 und J 10/94 wurde auf einen analogen Fall der rechtlichen Unmöglichkeit erkannt, nachdem der Anmelder infolge eines gegen sein Vermögen gerichteten Verfahrens keine Mittel mehr zur Verfügung hatte, mit denen er die erforderliche Zahlung hätte leisten können, und er somit aufgrund des gegen sein Vermögen gerichteten Verfahrens in eine Situation geraten war, in der es ihm faktisch und rechtlich unmöglich war, das Verfahren vor dem EPA fortzusetzen. In solchen Fällen sei jedoch stets zu prüfen, ob es dem Anmelder aufgrund dessen tatsächlich unmöglich ist, das Verfahren fortzusetzen.
In J 18/12 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass die richtige Auslegung von R. 142 (1) b) EPÜ einen engen Zusammenhang zwischen dem gegen das Vermögen des Anmelders gerichteten Verfahren und der Bedingung voraussetzt, dass dieses Verfahren ursächlich dafür ist, dass der Anmelder aus rechtlichen Gründen an der Fortsetzung des Verfahrens verhindert ist. Dieses Kausalitätserfordernis ist in der Regel nur dann erfüllt, wenn das "Verfahren" ein Rechtsverfahren ist und gegen das komplette Vermögen des Anmelders gerichtet ist, d. h. gegen seinen gesamten Besitz.
In J 26/95 (ABl. 1999, 668) stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass, da besondere Umstände nicht geltend gemacht worden seien, ein gegen den Anmelder gerichtetes Verfahren nach Kapitel 11 des amerikanischen Konkursgesetzes keine Unterbrechung des Verfahrens vor dem EPA im Sinne von R. 90 (1) b) EPÜ 1973 (R. 142 (1) b) EPÜ) bewirke (s. auch J 11/98). Das Verfahren nach Kapitel 11 des amerikanischen Konkursgesetzes sei zwar ein gegen das Vermögen des Schuldners gerichtetes Verfahren, es mache es dem Schuldner aber nicht unmöglich, das Verfahren vor dem EPA fortzusetzen. Vielmehr sei es charakteristisch für ein Verfahren nach Kapitel 11, dass der Schuldner die Geschäfte fortführe. Konkursverfahren nach Kapitel 11 seien daher nicht mit den Fällen vergleichbar, die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern als Auslöser für die Unterbrechung des Verfahrens anerkannt worden seien, d. h. in denen die Beteiligten einem gerichtlichen Vergleichsverfahren nach französischem Recht unterworfen waren (J 7/83, ABl. 1984, 211) oder nach deutschem Insolvenzrecht der Konkurs eröffnet wurde (J 9/90). Es sei auch keine Sachlage nachgewiesen worden, die mit der Ausnahmesituation in den Entscheidungen J 9/94 und J 10/94 (s. oben) vergleichbar wäre.
In J 11/95 hatte der Anmelder das Verfahren vor dem EPA fortgesetzt, nachdem er Konkurs angemeldet hatte. Er hatte insbesondere den Eintritt in die regionale Phase vor dem EPA beantragt und die entsprechenden Gebühren bezahlt. Aufgrund dieser Tatsachen und da keine Gegenbeweise vorlagen, befand die Juristische Beschwerdekammer, dass der Anmelder (in Konkurs) nicht aus rechtlichen Gründen verhindert war, das Verfahren vor dem EPA fortzusetzen.
In J 16/05 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass R. 90 EPÜ 1973 keine Frist vorschreibt, innerhalb derer dem EPA Umstände mitgeteilt werden müssten, die eine Verfahrensunterbrechung begründen. Sinn und Zweck von R. 90 (1) b) EPÜ 1973 besteht darin, Parteien, die aus bestimmten rechtlichen Gründen keine Verfahrenshandlungen zur Abwendung eines drohenden Rechtsverlusts vornehmen können, so lange zu schützen, bis das EPA das Verfahren nach R. 90 (2) EPÜ 1973 wiederaufnehmen kann. Die Juristische Beschwerdekammer wies aber auch darauf hin, dass R. 90 (1) b) EPÜ 1973 aus Gründen der Rechtssicherheit nicht ohne jegliche zeitliche Beschränkung angewandt werden kann. Die Parteien müssen nach Treu und Glauben sowie zeitnah handeln; wenn sie von Tatsachen Kenntnis erlangen, die eine Unterbrechung des Verfahrens rechtfertigen, können sie nicht Jahre damit warten, eine solche zu erwirken. S. auch T 54/17.
In T 54/17 stellte die Kammer Folgendes fest: Setzt ein Patentinhaber in Kenntnis der Unterbrechungsvoraussetzungen, die ausschließlich in seiner Sphäre liegen, nach dem Wegfall der Unterbrechungsvoraussetzungen das Verfahren über Jahre uneingeschränkt fort, ohne sich darauf zu berufen, so erscheint es unbillig die Unterbrechung zu einem so späten Zeitpunkt geltend zu machen, mit der Folge, dass das bis dahin erfolgte Verfahren, an dem er bis dato aktiv mitgewirkt hat, zu wiederholen wäre. Dies widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”