1. Artikel 123 (2) EPÜ – Erweiterung des Gegenstands
Gemäß Art. 123 (2) EPÜ dürfen die europäische Patentanmeldung und das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Im Zuge der Revision des EPÜ wurde der Wortlaut des Art. 123 (2) EPÜ lediglich redaktionell angepasst.
Das Konzept des "Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" bezieht sich auf die Teile der Patentanmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind, nämlich die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen (G 3/89, ABl. 1993, 117, und G 11/91, ABl. 1993, 125). S. unten in diesem Kapitel II.E.1.2. "Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung: Teile der Anmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind".
Art. 123 (2) EPÜ liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem Anmelder nicht gestattet ist, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte (s. G 1/93, ABl. 1994, 541); andernfalls könnte es sein, dass die Öffentlichkeit später mit Ansprüchen konfrontiert wird, die über das hinausgehen, was in der Anmeldung in der eingereichten und veröffentlichten Fassung offenbart war (T 740/91 und T 1227/10). Die Öffentlichkeit darf nicht mit einem Schutzbereich konfrontiert sein, den sich ein Fachmann nach Durchsicht der gesamten technischen Offenbarung der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung nicht hätte erschließen können (T 157/90, s. auch T 187/91 und T 2327/18, in der G 2/10 (ABl. 2012, 376, Nr. 4.5.5 der Gründe) angeführt wird).
Als "Goldstandard" (G 2/10, ABl. 2012, 376) für die Beurteilung, ob eine Änderung mit Art. 123 (2) EPÜ in Einklang steht, gilt: Jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) unterliegt dem in Art. 123 (2) EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot und darf daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 3/89, ABl. 1993,117; G 11/91, ABl. 1993, 125). Die Änderung darf nicht dazu führen, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält (G 2/10; s. aber G 1/16 zu nicht offenbarten Disclaimern). S. dazu ausführlich unten in diesem Kapitel II.E.1.3. "Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ"; zu Einzelheiten zu G 1/16, ABl. 2018, A70, s. unten Kapitel II.E.1.7. "Disclaimer".
Art. 123 (2) EPÜ findet Anwendung auf alle Änderungen der Patentanmeldung oder des Patents. Dazu gehören auch Berichtigungen der Beschreibung, der Ansprüche oder der Zeichnungen gemäß R. 139 Satz 2 EPÜ (s. dazu ausführlich in diesem Kapitel II.E.4. "Berichtigung von Fehlern in der Beschreibung, den Ansprüchen oder den Zeichnungen – Regel 139 EPÜ").
Die Große Beschwerdekammer betonte die Wichtigkeit eines einheitlichen Offenbarungskonzepts (unter Verweis auf Art. 54, 87 und 123 EPÜ; s. G 2/10, ABl. 2012, 376, Nr. 4.6 der Gründe mit Hinweis auf G 1/03, ABl. 2004, 413; s. auch G 1/15, ABl. 2017, A82, unter Verweis auf G 2/98, ABl. 2001, 413). S. auch z. B. T 330/14.
Bei Teilanmeldungen sind in Bezug auf die Frage, ob der Gegenstand über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, dieselben Grundsätze anzuwenden (G 1/05 date: 2007-06-28, ABl. 2008, 271, Nr. 5.1 der Gründe). Entscheidungen zu solchen Fällen werden daher ebenfalls in diesem Kapitel behandelt.
Dieselben Grundsätze gelten auch für den Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ.
Der Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ und das entsprechende Erfordernis von Art. 123 (2) EPÜ im Hinblick auf Änderungen, die im Einspruchs- und im Einspruchsbeschwerdeverfahren am Patent vorgenommen werden, sind für die Entscheidung, ob ein Patent aufrechterhalten werden kann, von derselben grundlegenden Bedeutung wie andere Erfordernisse, z. B. Neuheit, erfinderische Tätigkeit und ausreichende Offenbarung. Im Übrigen ist eine Erweiterung im Sinne des Art. 123 (2) EPÜ nicht eine Frage der "Form" des Patents, die unter die Rubrik "Formerfordernisse" fallen würde, sondern eine Sachfrage (T 2171/14).
- T 1054/22
Zusammenfassung
In T 1054/22 the examining division had concluded that claim 1 of the main request did not fulfil requirements of Art. 123(2) or 76(1) EPC, among other things, and it refused the patent application.
In its submissions on appeal, the applicant had argued that applying the criteria of G 1/93 (point 16 of the Reasons), the amendments did not result in an unwarranted advantage. Amended claim 1 of the main request was based on the earlier application as filed. This applied in particular to the amendments concerning the omega-6 to omega-3 ratio of 4:1 or greater and the concentration of omega-6 fatty acids (4-75% by weight of total lipids) and omega-3 fatty acids (0.1-30% by weight of total lipids).
The board dismissed the appeal. It explained that determining whether an amendment complied with the requirements of Art. 123(2) and 76(1) EPC was assessed using the "gold standard". This term was coined in G 2/10, in which the jurisprudence developed by the Enlarged Board in opinion G 3/89 and decision G 11/91 was confirmed.
The board explained that G 1/93 primarily concerned a case in which a granted claim could not be maintained unamended in opposition proceedings because the claim was found to contravene Art. 123(2) EPC. The examining division had allowed an amendment that should not have been allowed. As explained in G 2/10 (point 4.3 of the Reasons, last paragraph), G 1/93 was not intended to modify the "gold standard".
According to G 1/93, the purpose of Art. 123(2) EPC (and Art. 76(1) EPC) was to prevent an applicant from gaining an unwarranted advantage by obtaining patent protection for something it had not properly disclosed on the date of filing of the application. An added feature limiting the scope of the claim may still contravene Art. 123(2) EPC. An example of this, explicitly mentioned in G 1/93, is a limiting feature that creates an inventive selection not disclosed in the application as filed or otherwise derivable therefrom.
In the case in hand, value ranges had been added to claim 1 of the main request, in features a), (i) and (ii). The question was whether the skilled person would have derived these amendments directly and unambiguously, using common general knowledge, from the entirety of the earlier application as filed. What had to be examined was not only whether there was a basis for each of the features added by the amendments but also whether the skilled person would have derived the combination of features a), (i) and (ii), and that combination of features alone, from the earlier application as filed.
The board concluded that no basis could be found in the earlier application as filed for the combination of the concentration of omega-6 fatty acids of 4-75% by weight of total lipids and omega-3 fatty acids of 0.1-30% by weight of total lipids (feature (i) of claim 1 of the main request). As to the ratio (feature a) of claim 1 of the main request), there was no basis in the earlier application as filed for an open-ended ratio of omega-6 to omega-3 fatty acids of 4:1 or greater. Thus, claim 1 of the main request contravened Art. 76(1) EPC.