4.5. Dritte Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Zustellung der Ladung oder Ablauf der in einer Regel 100 (2) EPÜ-Mitteilung gesetzten Frist – Artikel 13 (2) VOBK 2020
Art. 13 (2) VOBK 2020 implementiert die dritte Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes. Art. 13 (2) VOBK 2020 sieht die am weitesten reichenden Beschränkungen für eine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten vor, das erst in einem vorgerückten Verfahrensstadium erfolgt, nämlich nach Ablauf einer Frist, die die Beschwerdekammer in einer Mitteilung nach R. 100 (2) EPÜ bestimmt hat, oder, wenn keine solche Mitteilung ergeht, nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK 2020, Zusatzpublikation 2, ABl. 2020; eine spätere Absage der mündlichen Verhandlung ist für die Anwendung von Art. 13 (2) VOBK 2020 irrelevant, siehe T 2279/16). Art. 13 (2) VOBK 2020 sieht vor, dass Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten in dieser Phase des Verfahrens grundsätzlich nicht berücksichtigt werden, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
Zwar wird in zahlreichen Entscheidungen hervorgehoben, dass der Beteiligte zwingende Gründe dafür aufzeigen muss, dass die Umstände außergewöhnlich sind (siehe z. B. T 1107/16, T 2486/16), doch T 1294/16 verweist auf eine Ausnahme: Der Beteiligte muss keine stichhaltigen Gründe angeben, wenn die Kammer die Umstände mit Blick auf den Zweck des Konvergenzansatzes von sich aus als außergewöhnlich ansieht.
In T 2486/16 betonte die Kammer, dass der Beteiligte bei der Angabe seiner "stichhaltigen Gründe" nicht nur die geltend gemachten Umstände darlegen und erläutern sollte, warum sie als außergewöhnlich zu betrachten sind, sondern auch erklären sollte, warum diese Umstände direkte Auswirkungen darauf hatten, dass der Beteiligte seine Anträge nicht früher einreichen konnte. In ähnlicher Weise vertrat die Kammer in T 1707/17 die Auffassung, dass die in Art. 13 (2) VOBK 2020 angeführten stichhaltigen Gründe auch Gründe dafür einschließen sollten, warum es nicht möglich war, die Änderung früher einzureichen. In T 545/18 legte die Kammer "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13(2) VOBK 2020 allerdings breiter aus und verlangte keinen solchen kausalen Zusammenhang zwischen außergewöhnlichen Umständen und verspäteter Einreichung. Siehe auch in diesem Kapitel V.A.4.5.4 b) "Kausaler Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Umständen und der verspäteten Einreichung".
Hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs "außergewöhnliche Umstände" waren die Kammern in vielen Entscheidungen der Ansicht, dass außergewöhnliche Umstände neue oder unvorhergesehene Entwicklungen des Beschwerdeverfahrens, wie etwa von der Kammer oder einem anderen Beteiligten erhobene neue Einwände, betrafen (T 2329/15, s. auch T 1702/18), während der gewöhnliche Verlauf verspätete Einreichungen nicht zu rechtfertigen vermag (siehe z. B. T 1870/15, T 2539/16). In T 1294/16 betonte die Kammer allerdings, dass der Grund für den Konvergenzansatz die Verfahrensökonomie des Beschwerdeverfahrens sei. Wenn also die Zulassung von (verspätetem) Vorbringen nicht die Verfahrensökonomie beeinträchtigte, war es aus Sicht der Kammer angemessen zu akzeptieren, dass "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 vorlagen, sofern dies keine nachteiligen Auswirkungen für andere Beteiligte hatte. Siehe auch T 2135/18. In der Sache T 713/14 berücksichtigte die Kammer bei der Prüfung auf Vorliegen außergewöhnlicher Umstände den gesamten Hintergrund des Falls sowie die Tatsache, dass die Änderungen (Streichungen von Alternativen und Beschränkungen auf Ausführungsformen abhängiger Ansprüche) keine neuen Fragestellungen aufwarfen und dass der Beschwerdeführer ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, gegen alle beanspruchten Ausführungsformen Einwände zu erheben. Zur Auslegung von "außergewöhnliche Umstände" siehe auch in diesem Kapitel V.A.4.5.4 a).
In T 1904/16 erinnerte die Kammer im Zusammenhang mit diesem Erfordernis der außergewöhnlichen Umstände an Folgendes: Nach Art. 12 (2) VOBK 2007, der im Wesentlichen Art. 12 (3) VOBK 2020 entspricht, müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Vorbringen eines Beteiligten enthalten. Zusammen mit der angefochtenen Entscheidung wird durch die Beschwerdebegründung und die Erwiderung der Gegenstand einer Beschwerde bestimmt (Art. 12 (1) VOBK 2020). Zweck dieser Bestimmung ist es – nach beiden Fassungen der Verfahrensordnung –, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens der Beteiligten zu beginnen.
In T 1294/16 erörterte die Kammer die Frage, wie der Begriff "grundsätzlich" in Art. 13 (2) VOBK 2020 auszulegen war. Die Kammer verwarf die Möglichkeit, dass mit diesem Begriff ein Rest Ermessensspielraum für sie bewahrt werden sollte, einen Antrag auch dann zuzulassen, wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen (oder wenn keine stichhaltigen Gründe für deren Vorliegen aufgezeigt werden), und kam zu dem Schluss, dass dieser Begriff außer Acht gelassen werden sollte.
Bei den meisten Entscheidungen haben die Kammern zuerst geprüft, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, und anschließend – nur wenn dies der Fall war – ihr Ermessen über die Zulassung der Änderung ausgeübt. Unter Bezugnahme auf CA/3/19 (Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK 2020) hoben mehrere Kammern hervor, dass das Grundprinzip für die dritte Stufe des Konvergenzansatzes darin besteht, dass in dieser Phase des Verfahrens Änderungen am Beschwerdevorbringen eines Beteiligten nicht mehr berücksichtigt werden und dass nur eine begrenzte Ausnahme vorgesehen ist. Damit diese zum Tragen kommt, muss ein Beteiligter zwingende Gründe aufzeigen, die eindeutig rechtfertigen, dass die Umstände, die zu der Änderung geführt haben, tatsächlich außergewöhnlich sind in diesem Verfahren (T 689/15, T 552/16 und T 2778/17). In gleicher Weise und ebenso unter Bezugnahme auf CA/3/19 führten die Kammern in T 989/15, T 1107/16, T 954/17 und T 709/16 aus, dass die Kammer, wenn das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände nachgewiesen wurde, ihr Ermessen über die Zulassung der Änderung ausüben kann.
In T 709/16 wurde betont, dass, wenn die Kammer das Argument des Beteiligten gelten lässt, außergewöhnliche Umstände hätten vorgelegenen, es immer noch im Ermessen der Kammer liegt, ob sie den Antrag in das Beschwerdeverfahren zulässt (s. auch T 2010/15). Ebenso stellte die Kammer in der Sache T 1080/15 fest, dass ein erstmals von der Kammer erhobener Einwand zwar ein außergewöhnlicher Umstand sein kann, der die Zulassung eines Antrags rechtfertigt, dies ist jedoch kein Freibrief für den Beschwerdeführer, die Ansprüche nach Belieben zu ändern. Diese zweistufige Prüfung (außergewöhnliche Umstände, Ermessen) spiegelt sich in der Struktur dieses Kapitels wider.
In anderen Entscheidungen bewerteten die Kammern jedoch das Erfordernis außergewöhnlicher Umstände nach Art. 13 (2) VOBK 2020 und die Kriterien für die Ermessensausübung in einem Schritt (siehe z. B. T 2703/16, T 1055/17, T 1790/17, T 713/14 und T 917/18).
In mehreren Entscheidungen wurde (unter Bezugnahme auf CA/3/19, Abschnitt VI) festgestellt, dass es den Beschwerdekammern in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes freisteht, die in Art. 13 (1) VOBK 2020 festgelegten Kriterien anzuwenden, wenn sie in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (2) VOBK 2020 darüber entscheiden, ob sie eine zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens vorgenommene Änderungen zulassen (siehe z. B. T 989/15, T 584/17, T 954/17, T 752/16, T 764/16, T 709/16 und T 995/18). Wie in T 2429/17 hervorgehoben, kann die Kammer in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes auch Kriterien heranziehen, die für die erste und zweite Stufe des Konvergenzansatzes Anwendung finden, d. h. die in in Art. 13 (1) VOBK 2020 und Art. 12 (4) bis (6) VOBK 2020 festgelegten Kriterien.
In T 2486/16 erläuterte die Kammer, dass die Kriterien von Art. 13 (1) VOBK 2020 die gesonderten Erfordernisse von Art. 13 (2) VOBK 2020 ergänzen, jedoch nicht ersetzen.
- T 1800/21
Orientierungssatz:
1. Es scheint sich eine einheitliche Rechtsprechungslinie dahingehend zu entwickeln, dass in Fällen, in denen durch eine unkomplizierte Änderung wie das Streichen einer gesamten Anspruchskategorie eine Antragsfassung vorliegt, auf deren Basis das Patent erkennbar aufrechterhalten werden kann, außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13(2) EPÜ vorliegen können. Diese erlauben dann eine positive Ermessensausübung, wenn die Änderung den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens nicht verschiebt, keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes bedingt und weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie, noch den berechtigten Interessen einer Verfahrenspartei zuwiderläuft (im Anschluss an T 2295/19; siehe Gründe Nr. 3.4.2 bis 3.4.6) 2. Diese Rechtsprechung fügt sich hinsichtlich des Grades der geforderten prima facie Relevanz in die Stufen des mit der VOBK etablierten Konvergenzansatzes ein und führt diesen logisch fort (vgl. Gründe Nr. 3.4.7). 3. Es besteht keine Notwendigkeit (mehr), zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung die Große Beschwerdekammer zu befassen (vgl. Gründe Nr. 4 bis 4.4).
- T 2465/19
Catchword:
Admittance under Article 13(2) RPBA of claims and an adapted description filed as a response to the express invitation of the Board in its communication under Article 15(1) RPBA to file such amended application documents (Reasons 3).
- T 2295/19
Catchword:
Änderung eines Anspruchssatzes durch Streichung von Ansprüchen. Zur Frage seiner Zulassung unter Artikel 13 (2) RPBA 2020 siehe Entscheidungsgründe Nr. 3.4.1 bis 3.4.14
- T 1906/19
Catchword:
The Board understands [the wording of Article 13(2) RPBA 2020] as laying down a basic rule but leaving some limited leeway for exceptions. The basic rule is that amendments are not considered unless there are exceptional circumstances justified by cogent reasons (by the submitting party). The leeway for deviating from this rule lies in the expression "in principle" ("en principe"; "grundsätzlich"), which the Board reads roughly as "as a rule", meaning that the provision's basic rule is not entirely without exception. This leeway, when applied, means that an amendment can be considered despite the absence of exceptional circumstances justified by cogent reasons.
- T 339/19
Catchword:
"Exceptional circumstances" in Rule 13(2) RPBA interpreted as those that compromise neither the procedural rights of the other party, nor procedural economy.
- T 2920/18
Catchword:
Amendment of a set of claims by deletion of claims. Admittance of said amended set of claims pursuant to Article 13(2) RPBA 2020: see points 3.1 to 3.16 of the Reasons for the Decision.
- T 2632/18
Catchword:
That a "new" objection was raised by a board in appeal proceedings cannot per se amount to "exceptional circumstances" within the meaning of Article 13(2) RPBA 2020 (see point 4.3 of the Reasons).
- T 2125/18
Catchword:
Notification of the statement of grounds of appeal is not a Rule 100(2) EPC communication (Reasons 1.4)
Article 13(2) RPBA – “in principle” (Reasons 2.1)- T 574/17
Catchword:
If there is an amendment to the patent in the appeal proceedings which has never been examined before, the Enlarged Board's obiter dictum in G 10/91, Reasons 19, is fully respected when only the prima facie relevance of an objection under Article 123(2) EPC is considered in the context of assessing whether there are exceptional circumstances under Article 13(2) RPBA 2020 (Reasons 2.3.1-2.3.14).
- T 1807/15
Catchword:
If more than one summons are issued in appeal proceedings, both after the entry into force of the revised version of the Rules of Procedure, the first of these summons are the summons referred to in Article 13(2) RPBA 2020. Summons represent a predictable and objectively determinable trigger for the third level of convergence. This trigger function is independent of any subsequent procedural development, see reasons 2. The postponement of oral proceedings due to a request for a referral of a question of law to the Enlarged Board of Appeal which was not announced in advance by the party making the request normally does not justify apportionment of costs. Since there is no guarantee that such a request will be successful, all parties will normally have to prepare for a discussion of the substance of the case irrespective of whether the request is announced in advance or not, see reasons 8.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache