1. Rechtlicher Charakter des Beschwerdeverfahrens
Die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) hat ihre Rechtsgrundlage in Art. 23 (4) EPÜ i.V.m. R. 12c (2) EPÜ (s. dazu auch T 700/15). Die 2019 grundlegend überarbeitete Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) trat am 1. Januar 2020 in Kraft (s. dazu ausführlich Zusatzpublikation 2, ABl. 2020). Sie wurde mit folgendem Ziel überarbeitet: i) die Effizienz zu steigern, indem die Zahl der zu verhandelnden Angelegenheiten (Fragen) reduziert wird, ii) die Vorhersehbarkeit für die Beteiligten zu verbessern und iii) die Harmonisierung zu fördern.
Die Änderungen der VOBK lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen wurden Verbesserungen bezüglich der Steuerung der Gesamtarbeitslast bei den Beschwerdekammern sowie bezüglich der Steuerung des Verfahrensablaufs in den Einzelfällen eingeführt. Zum anderen wurden Änderungen vorgenommen, um klarzustellen, dass es das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens ist, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Art. 12 (2) VOBK 2020).
Die Beschwerdekammern bilden in Verfahren vor dem EPA die erste und letzte gerichtliche Instanz. In dieser Eigenschaft überprüfen sie die angefochtenen Entscheidungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Die Tatsache, dass die Kammern in erster Linie die Aufgabe haben, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen, hat u. a. zur Folge, dass die Beteiligten mit zunehmendem Fortschreiten des Beschwerdeverfahrens immer weniger Möglichkeiten zur Änderung ihres Vorbringens erhalten.
Grundlegende Änderungen der VOBK gab es zuvor im Jahr 2003. Diese betrafen den "Kern" des Beschwerdeverfahrens, d. h. das schriftliche und das mündliche Verfahren sowie verschiedene damit zusammenhängende Aspekte wie verspätetes Vorbringen und Kosten (s. ausführlich CA/133/02). Im Jahr 2007 wurde die VOBK im Hinblick auf das EPÜ 2000 erneut geändert (ABl. 2007, 536), wobei die Vorschriften zum schriftlichen und mündlichen Verfahren grundsätzlich beibehalten, aber neu nummeriert wurden.
Nach Art. 23 VOBK 2020, der gegenüber der vorherigen Fassung unverändert ist, ist die Verfahrensordnung für die Beschwerdekammern verbindlich, soweit sie nicht zu einem mit dem Geist und Ziel des Übereinkommens unvereinbaren Ergebnis führt (s. dazu T 2227/12).
In T 2154/15 befand die Kammer, dass die VOBK subsidiäres Recht darstellt und somit den Kammern keine Befugnisse entziehen kann, die ihnen durch einen Artikel des EPÜ übertragen wurden.
Weitere Ausführungen zur VOBK 2020 sind insbesondere in den Kapiteln V.A.8. "Zurückverweisung an die erste Instanz", V.A.4. "Neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren – Rechtsprechung zur VOBK 2020", und III.C. "Mündliche Verhandlung", enthalten.