1.1. Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens
In G 1/07 (ABl. 2011, 134) hatte der Beschwerdeführer vorgetragen, dass eine enge Auslegung der Ausschlussbestimmungen in den Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens zu finden sei. Die Große Beschwerdekammer befand, dass sich aus dem Wiener Übereinkommen kein allgemeiner Grundsatz einer engen Auslegung der Ausnahmen von der Patentierbarkeit ableiten lässt, der a priori auf die Auslegung solcher Ausnahmen anwendbar wäre. Vielmehr ist die allgemeine Regel in Art. 31 (1) des Wiener Übereinkommens, wonach ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, auf die Ausnahmeregelung des EPÜ in der gleichen Weise anzuwenden wie auf jede andere Bestimmung. Ergibt die Interpretation der betreffenden Vorschrift gemäß diesen Auslegungsgrundsätzen, dass eine enge Auslegung der richtige Ansatz ist, dann – und nur dann – kann ihr eine solche restriktive Bedeutung gegeben werden.
In G 2/12 und G 2/13 kam die Große Beschwerdekammer zu folgendem Schluss: Während es kein allgemeines Konzept einer zwingend engen Auslegung der Ausnahmen von der Patentierbarkeit gibt, wie sie beispielsweise vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) praktiziert wird, der auf einer engen Auslegung der Ausnahmen oder Abweichungen von den in den vier Freiheiten verankerten Grundprinzipien des EG‑Vertrags besteht (Urteil vom 21. Juni 1974, Rs. 2/74, Jean Reyners/Belgischer Staat, Slg. 1974, 631), könnte sich eine solche enge Auslegung durchaus aus der Anwendung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze auf eine konkrete Vorschrift bezüglich einer konkreten Rechts- und Sachlage ergeben. Die in G 2/12 getroffene Auslegung des Art. 53 b) EPÜ wurde in Anbetracht von Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens in G 3/19 aufgegeben.
In G 1/07 wurde auf die Stellungnahme G 1/04 (ABl. 2006, 334, Nr. 6 der Gründe) verwiesen. In dieser Stellungnahme hatte die Große Beschwerdekammer – unter Hinweis auf Entscheidungen der Beschwerdekammern, die die Existenz eines solchen A-priori-Prinzips anerkannt hatten –, erklärt, dass der häufig angeführte Grundsatz, wonach im EPÜ vorgesehene Ausschlussbestimmungen zur Patentierbarkeit restriktiv auszulegen sind, nicht ausnahmslos gilt. In dieser Stellungnahme, in der es um die Definition des Begriffs der am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnostizierverfahren ging, gelangte die Große Beschwerdekammer erst nach einer eingehenden Prüfung von Wortlaut und Zweck der betreffenden Ausschlussklausel zu dem Schluss, dass diese tatsächlich eng auszulegen sei. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die Große Beschwerdekammer in G 2/06 (ABl. 2009, 306). In dieser Sache hatte sie sich mit der Auslegung des Patentierbarkeitsausschlusses für biotechnologische Erfindungen zu befassen, die sich auf die Verwendung menschlicher Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken nach R. 28 c) EPÜ (und dem entsprechenden Art. 6 (2) der EG-Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen) beziehen. Die Große Beschwerdekammer stellte nicht auf die Existenz eines Grundsatzes ab, wonach Ausnahmen von der Patentierbarkeit restriktiv auszulegen seien. Vielmehr zog sie zur Auslegung der Reichweite des Patentierungsverbots unmittelbar die im Wiener Übereinkommen niedergelegten Auslegungsregeln heran, prüfte also Wortlaut, Ziel und Zweck der betreffenden Vorschrift (Nr. 16 der Gründe). In dieser Entscheidung ist keine Rede davon, dass eine enge bzw. restriktive Auslegung geboten sei, weil es sich bei diesem Verbot um eine Ausnahme von der Patentierbarkeit handle. In G 1/07 beschloss die Große Beschwerdekammer, genauso vorzugehen.