7.2.4 Neuheit der therapeutischen Anwendung
Einige Beschwerdekammern halten eine grundsätzliche Anerkennung der Patentierbarkeit von spezifischen therapeutischen Verwendungen für problematisch, wenn diese sich lediglich durch die Dosierungsanleitung vom Stand der Technik unterscheiden. In ihrer Entscheidung G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) ging die Große Beschwerdekammer umfassend auf diese Problematik ein.
Unter Verweis auf die Rechtsprechung und eine mögliche Kollision mit Art. 52 (4) EPÜ 1973 wurde mit der Entscheidung T 584/97 ein Anspruch von der Patentierung ausgeschlossen, der im Wesentlichen auf die Verabreichung von Nicotin in zunehmend höheren Dosen gerichtet war. Auch in den Sachen T 317/95, T 56/97 und T 4/98 (ABl. 2002, 139) wurde diese Frage erörtert und eher negativ beurteilt, blieb letztlich aber unbeantwortet. In allen diesen Fällen wäre die Anmeldung aus anderen Gründen, d. h. mangelnde Neuheit oder mangelnde erfinderische Tätigkeit, ohnehin zurückgewiesen worden, sodass die Entscheidung dieser Frage unerheblich war (s. auch T 1319/04 date: 2008-04-22, ABl. 2009, 36).
In T 1319/04 date: 2008-04-22 (ABl. 2009, 36) legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer die Frage vor, ob Arzneimittel zur Verwendung bei Verfahren zur therapeutischen Behandlung, deren einziges neues Merkmal eine neue Dosierungsanleitung ist, nach den Art. 53 c) und 54 (5) EPÜ patentierbar sind, die die Große Beschwerdekammer in G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) wie folgt beantwortet hat:
1. Art. 54 (5) EPÜ schließt nicht aus, dass ein Arzneimittel, das bereits zur Behandlung einer Krankheit verwendet wird, zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird. Der Wortlaut von Art. 53 c) EPÜ, in dem "Verfahren zur … therapeutischen Behandlung des menschlichen … Körpers" von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden, ist klar und eindeutig. Dort wird unterschieden zwischen nicht gewährbaren Verfahrensansprüchen, die auf eine therapeutische Behandlung gerichtet sind, und gewährbaren Ansprüchen, die auf Erzeugnisse zur Anwendung in solchen Verfahren gerichtet sind. Die beiden Konzepte – Verfahren zur therapeutischen Behandlung und Erzeugnis zur Anwendung in einem solchen Verfahren – liegen so nahe beieinander, dass eine hohe Verwechslungsgefahr besteht, sofern nicht jedes Konzept auf den ihm rechtlich zugewiesenen Bereich begrenzt wird. Art. 53 c) Satz 2 EPÜ ist somit nicht eng auszulegen; vielmehr muss beiden Vorschriften (Art. 54 (5) EPÜ und Art. 53 c) EPÜ) das gleiche Gewicht zugestanden und gefolgert werden, dass im Falle von Ansprüchen auf eine therapeutische Behandlung, Verfahrensansprüche absolut unzulässig sind, damit der Arzt uneingeschränkt seiner Tätigkeit nachgehen kann, während Produktansprüche gewährbar sind, sofern ihr Gegenstand neu und erfinderisch ist. Aufgrund einer Rechtsfiktion können nach Art. 54 (4) und (5) EPÜ Stoffe oder Stoffgemische als neu betrachtet werden, auch wenn sie bereits zum Stand der Technik gehören, sofern sie für eine neue Verwendung in einem Verfahren beansprucht werden, das nach Art. 53 c) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist. Die fiktive Neuheit und damit ggf. auch die erfinderische Tätigkeit werden nicht vom Stoff oder Stoffgemisch als solchem abgeleitet, sondern von seiner beabsichtigten therapeutischen Verwendung. Angesichts der in Art. 54 (5) EPÜ enthaltenen Formulierung "zur spezifischen Anwendung" (englische Fassung: "any specific use") in Verbindung mit der erklärten Absicht des Gesetzgebers, den Status quo des in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern mit der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) entwickelten Patentschutzes zu wahren, kann diese Anwendung nicht von Amts wegen auf eine neue Indikation im strengen Sinne begrenzt werden (Bestätigung der Entscheidung T 1020/03, ABl. 2007, 204).
2. Die Große Beschwerdekammer stellte weiter fest, dass die Patentierbarkeit auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsform ist. Angesichts der Antwort auf die erste Frage und da die "spezifische Anwendung" im Sinne von Art. 54 (5) EPÜ auch in etwas anderem bestehen könnte als der Behandlung einer anderen Krankheit, nachdem diese Vorschrift auch im Falle der Behandlung derselben Krankheit anwendbar ist, sieht die Große Beschwerdekammer keinen Grund, ein Merkmal, das in einer neuen Dosierungsform eines bekannten Arzneimittels besteht, anders zu behandeln als andere, in der Rechtsprechung anerkannte spezifische Anwendungen. Sie wies jedoch darauf hin, dass die gesamte Rechtsprechung zur Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit ebenfalls anwendbar ist. Die einschlägige Rechtsprechung ist weiterhin anwendbar (s. T 290/86, ABl. 1992, 414; T 1020/03, ABl. 2007, 204; T 836/01; T 1074/06).
In T 1020/03 (ABl. 2007, 204) wurde erstmals eine reine Dosierungsweise als von der Patentierbarkeit nicht ausgeschlossen anerkannt. Die Ansprüche waren auf die Verwendung eines insulinähnlichen Wachstumsfaktors I bei der Herstellung eines Arzneimittels gerichtet, das einem Säugetier auf eine bestimmte diskontinuierliche Weise verabreicht werden sollte. In ihrem Leitsatz führte die Kammer Folgendes aus: Bei jeder unter Art. 52 (4) Satz 1 EPÜ 1973 fallenden Verwendung eines Stoffgemisches, das bereits für eine therapeutische Anwendung vorgeschlagen wurde, ist ein Anspruch für eine zweite medizinische Verwendung, der auf die Herstellung des Stoffgemisches für diese zweite medizinische Verwendung gerichtet ist, unabhängig davon gewährbar, wie ausführlich diese Verwendung beschrieben wird, sofern sie neu und erfinderisch ist. Für die Neuheit ist auch nach Art. 54 (5) EPÜ maßgeblich, ob die therapeutische Anwendung neu ist, und zwar unabhängig davon, wie ausführlich die Therapie im Anspruch dargelegt ist.
- T 1356/21
Catchword:
1. Novelty in the case of purpose-limited product claims pursuant to Article 54(5) EPC relying on a dosage regimen defined by a numerical range, see point 2.6 of the reasons. 2. Limits to the application of the concept of bonus effect, see point 3.4.3 of the reasons.