3.4. Umfang der Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer
Die Gründe, auf die ein Überprüfungsantrag gestützt werden kann, hat der Gesetzgeber erschöpfend aufgezählt, nämlich in Art. 112a (2) EPÜ in Verbindung mit R. 104 EPÜ (R 1/08; s. auch R 10/09, R 14/09, R 16/09, R 17/09, R 18/09, R 20/09, R 20/10, R 6/11, R 13/11, R 19/11, R 20/11, R 2/12 vom 17. Oktober 2012 date: 2012-10-17, R 18/12, R 4/13, R 5/13, R 5/14, R 7/14, R 9/14, R 6/15, R 3/16). Nicht in der Ausführungsordnung genannte Rechtsverletzungen gelten nicht als Verfahrensmängel im Sinne des Art. 112a (2) d) EPÜ (R 16/09).
Die fehlerhafte Anwendung einer Verfahrensvorschrift, welche selbst nicht zu den im EPÜ aufgezählten Überprüfungsgründen gehört, kann nur überprüft werden, wenn sie einen der in Art. 112a (2) EPÜ in Verbindung mit R. 104 EPÜ aufgezählten Verfahrensmängel zur Folge hat (R 2/08, R 20/10, R 18/12). In R 8/16 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass Art. 125 EPÜ ausdrücklich festlegt, dass diese Vorschrift nur Anwendung findet, soweit das EPÜ Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, und stellte fest, dass sie daher nicht als Grundlage zur Erweiterung des Geltungsbereichs von Art. 112a EPÜ dienen könne.
Insbesondere können folgende Punkte nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens sein:
– die angeblich unzureichende Begründung (R 6/11; s. auch R 1/08, R 19/11, R 5/13, R 1/15, R 8/15, R 7/16), sofern sie keinen schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ darstellt
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 114 EPÜ in Verbindung mit R. 116 (1) und (2) EPÜ oder R. 101 EPÜ und R. 99 (2) EPÜ (R 14/09)
– die Weigerung, die Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung zu gestatten, die Verwendung einer anderen, gleichbedeutenden Terminologie statt der im EPÜ verwendeten in der mündlichen Verhandlung oder die unterbliebene Validierung der Niederschrift am Schluss der mündlichen Verhandlung (R 17/09)
– die angeblich mangelhafte Führung des Verhandlungsprotokolls, die angebliche Unzuständigkeit für die Entscheidung über den Ausschluss von der Akteneinsicht oder das angebliche Nichtverstehen des Vorbringens eines Beteiligten (R 20/09, R 7/17)
– die angebliche Verletzung des Art. 6 EMRK (R 1/16, R 18/09), sofern sie nicht mit einem schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ einhergeht (s. G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10 zur allgemeinen Geltung prozessualer Grundrechte in Verfahren vor dem EPA)
– die angebliche Verletzung des Vertrauensschutzes (R 13/11, R 1/16)
– die angeblich fehlerhafte Umkehr der Beweislast (R 21/10)
– der angeblich völlig irrationale Charakter der Entscheidung ("Wednesbury unreasonableness", R 19/11)
– die angeblich unzureichende Zeit, die für die mündliche Verhandlung eingeräumt wurde (R 2/12 date: 2012-10-17)
– die angebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs in Bezug auf einen anderen Beteiligten (R 5/14)
– das angeblich mangelnde technische Verständnis eines Kammermitglieds, sodass die Kammer nicht wie in Art. 21 (4) a) EPÜ vorgeschrieben mit zwei "technisch qualifizierten Mitgliedern" besetzt gewesen sei (R 3/12)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 4 (3) EPÜ oder gegen Art. 11 VOBK 2007, Art. 15 (4) VOBK 2007 und Art. 20 VOBK 2007 (R 9/14).
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 15 (5) und 15 (6) VOBK 2007, sofern er nicht mit einem schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ einhergeht und sofern kein schwerwiegender Verfahrensmangel nach Art. 112a (2) d) EPÜ in Verbindung mit R. 104 b) EPÜ vorliegt (R 7/14; s. auch R 10/08)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 20 (1) VOBK 2007 (R 7/13)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 114 EPÜ, Art. 13 VOBK 2007 oder mangelnde Unparteilichkeit (R 10/14)
– ein angeblicher Verstoß gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie (R 1/16)
– eine möglicherweise fehlerhafte Anwendung einer Regel aus der VOBK 2007, außer wenn nachgewiesen wird, dass aus diesem Fehler ein schwerwiegender Verfahrensverstoß im Sinne von Art. 112a (2) EPÜ (R 3/17) hervorgeht.
R. 106 EPÜ impliziert, dass nur Verfahrensmängel, die einer Beschwerdekammer zuzurechnen sind, nach Art. 112a EPÜ überprüft werden können. Verfahrensmängel im erstinstanzlichen Verfahren können daher nicht Gegenstand eines Überprüfungsantrags sein (R 20/10, R 8/11; s. auch R 19/12 vom 12. April 2016 date: 2016-04-12, R 3/16).