6.1. Vorlageverfahren nach Artikel 112 EPÜ
In der Sache G 1/21 date: 2021-05-17 vom 17. Mai 2021 waren der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer und die von ihm für die Behandlung dieser Vorlage bestellten Mitglieder X und Y wegen Besorgnis der Befangenheit (Art. 24 (3) EPÜ) abgelehnt worden. Die Ablehnung gründete sich auf die Mitwirkung des Vorsitzenden – in seiner Funktion als Präsident der Beschwerdekammern – an der Abfassung und Inkraftsetzung des Art. 15a VOBK 2020, der dieselbe Thematik betrifft wie die Vorlage. Ein weiteres vom Vorsitzenden in dieser Sache bestelltes Mitglied (Z) ersuchte die Große Beschwerdekammer in ihrer Besetzung nach Art. 24 (4) EPÜ, über seine weitere Mitwirkung an der Vorlagesache G 1/21 date: 2021-05-17 zu entscheiden, nachdem es ebenfalls an der Ausarbeitung des Artikels 15a VOBK 2020 beteiligt gewesen war.
Nach Prüfung der Einwände erklärte die Große Beschwerdekammer, dass die Tatsache, dass ein Richter zu einer – auch im betreffenden Fall zu entscheidenden – Rechtsfrage Stellung genommen hat, nicht schon für sich genommen und nicht stets ein Anlass für eine Besorgnis der Befangenheit ist (s. G 3/08 date: 2009-10-16 und G 2/08 date: 2009-06-15). Das Argument, der Präsident der Beschwerdekammern habe keine Vorbehalte hinsichtlich der (verfahrensgegenständlichen) Vereinbarkeit einer ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung mit Art. 116 EPÜ, kann also für sich genommen keine Besorgnis der Befangenheit begründen. Die Große Beschwerdekammer verwies jedoch darauf, dass es in der vorliegenden Sache nicht primär um eine Stellungnahme in einer Rechtsfrage ging, sondern vielmehr darum, dass der Vorsitzende der Großen Kammer in seiner Funktion als Präsident der Beschwerdekammern gesetzgeberische und administrative Handlungen mit der Prämisse vorgenommen hatte, dass die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz ohne das Einverständnis der Beteiligten mit Art. 116 EPÜ vereinbar sei. Die Große Beschwerdekammer entschied daher, dass die Besorgnis objektiv begründet war, der Vorsitzende könnte einer Bejahung der Vorlagefrage zuneigen, um eine Antwort zu vermeiden, der zufolge seine eigenen Handlungen gegen Art. 116 EPÜ verstießen. Er hatte in allen Phasen am Entwurf des neuen Artikels mitgewirkt, der in G 1/21 date: 2021-05-17 zumindest indirekt auf dem Prüfstand stand; seine Mitwirkung war unmittelbar und maßgeblich; er war Initiator des den zuständigen Organen zur Beschlussfassung unterbreiteten Entwurfs gewesen; er hatte die Praxis der Beschwerdekammern in diese Richtung gesteuert und die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis gesetzt. Umso mehr scheint auf die vorliegende Sache also die Urteilsbegründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in McGonnell vs. Vereinigtes Königreich (8. Februar 2000 – 28488/95) zuzutreffen, wonach eine unmittelbare Mitwirkung an der Verabschiedung eines Gesetzestextes wahrscheinlich ausreicht, um Zweifel an der Unbefangenheit aufkommen zu lassen.
Die Große Beschwerdekammer war von den Vorbehalten gegen die Mitglieder X und Y, beide Mitglieder des Präsidiums der Beschwerdekammern, nicht überzeugt. Der Vorschlag zur Änderung der VOBK 2020 war zwar in einer Präsidiumssitzung erörtert worden, doch gab es offenbar keine Abstimmung über eine negative oder positive Stellungnahme. Anders als im Fall des Vorsitzenden konnte die Rolle der beiden Kammermitglieder in einem Beratungsgremium nicht als unmittelbare Mitwirkung an der Verabschiedung eines Gesetzestextes angesehen werden. Z war in seiner Funktion als Mitglied und Projektkoordinator an der Abfassung des Art. 15a VOBK 2020 beteiligt gewesen. Anders als der Vorsitzende hatte Z keine formale Rolle im Entscheidungsfindungsprozess inne, der zur Annahme des Art. 15a VOBK 2020 führte. Dennoch befand die Große Beschwerdekammer, dass es in den Augen der Öffentlichkeit objektiv gerechtfertigte Bedenken geben könnte, dass auch dieses Mitglied – wie der Vorsitzende – einer Bejahung der Vorlagefrage zuneigen könnte, weil deren Verneinung implizieren würde, dass es aktiv an der Ausarbeitung eines mit Art. 116 EPÜ unvereinbaren Vorschlags mitgewirkt habe. Daher entschied die Große Beschwerdekammer in ihrer Zwischenentscheidung vom 17. Mai 2021, den Vorsitzenden und Z zu ersetzen. Den Einwand nach Art. 24 (3) EPÜ gegen die Mitglieder X und Y wies sie zurück.