4.4.6 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 – neue Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel
In T 140/15 brachte der Beschwerdeführer (Einsprechende) erstmalig in der mündlichen Verhandlung einen neuen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit vor. Die Kammer ließ diesen nicht zu (Art. 13 (1) VOBK 2020, Art. 13 (2) VOBK 2020 war noch nicht anwendbar), da sie keinen überzeugenden Grund für die späte Änderung des Vorbringens erkennen konnte. Dass eine Kammer vom bisherigen Vorbringen eines Beteiligten letztendlich nicht überzeugt werden kann, ist eine vorherzusehende Möglichkeit und stellt daher keine neue, und schon gar keine unerwartete Entwicklung des Verfahrens dar. Die Kammer fand zudem, dass die Notwendigkeit, sich mit dem neuen Einwand im extrem späten Verfahrensstadium der mündlichen Verhandlung befassen zu müssen, nicht der gebotenen Verfahrensökonomie entsprach. Die Kammer war auch der Auffassung, dass der Umstand, dass ein Einwand basierend auf der Kombination derselben Dokumente, aber in umgekehrter Reihenfolge bereits im Verfahren vorgebracht worden war, nichts daran änderte, dass es sich hier um einen neuen Einwand handelte, dessen Erörterung nicht zwangsläufig analog zum früheren Einwand verlaufen muss. Siehe jedoch auch T 310/18, zusammengefasst in Kapitel V.A.4.4.6 b), in der die Kammer einen Einwand auf der Basis einer Kombination derselben Dokumente wie zuvor, aber in umgekehrter Reihenfolge, zuließ.
In der Sache T 1014/17 wurde der neue Klarheitseinwand vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) erst nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebracht. Der geltende Hauptantrag, gegen den sich der Einwand richtete, war bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung diskutiert worden, u. a. unter dem Gesichtspunkt der Klarheit, nicht jedoch der vorliegende Klarheitseinwand. Auch in der Beschwerdebegründung wurde dieser Einwand nicht vorgebracht, obwohl andere Klarheitseinwände erhoben wurden. Die Kammer war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer unter solchen Umständen ausreichend Anlass gehabt hätte, spätestens zusammen mit der Beschwerdebegründung seine Position bezüglich der Klarheit des vorliegenden Anspruchs 1 zu überdenken und entsprechende Einwände einzureichen. Dies wäre im Hinblick auf die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren, das die Beteiligten verpflichtet, alle Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge so frühzeitig und vollständig wie möglich einzureichen (Art. 12 (2) VOBK 2020), und auch aus Gründen der Fairness gegenüber dem Beschwerdegegner (Patentinhaber), für den so rechtzeitig wie möglich ersichtlich sein soll, in welchem Umfang das Streitpatent angefochten wird und welche Gründe dafür sprechen, geboten gewesen. Die Kammer ließ diesen Einwand nach Art. 13 (1) VOBK 2020 sowie Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 (Art. 25(3) VOBK 2020) nicht in das Verfahren zu.
In T 329/16 verwies die Kammer auf Art. 12 (3) VOBK 2020 und kam zu dem Schluss, dass für den Einsprechenden die Obliegenheit bestanden hätte, seine Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit in seiner Beschwerdeerwiderung substantiiert vorzutragen, obwohl die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 verneint hatte. In diesem Zusammenhang war zu berücksichtigen, dass der Patentinhaber in seiner Beschwerdebegründung zur Frage der Neuheit des betreffenden Gegenstands eingehend vorgetragen hatte. Im Hinblick auf diesen Vortrag konnte der Einsprechende nicht darauf vertrauen, dass sich die Kammer der Auffassung der Einspruchsabteilung anschließen würde. Die erst in der mündlichen Verhandlung substantiiert vorgetragenen neuen Einwände liess die Kammer nach Art. 13(1) VOBK 2020 nicht zu.