H. Auslegung des EPÜ
In J 8/95 wurde festgestellt, dass selbst wenn bei einer Bestimmung in einer Sprache eine Abweichung von den beiden anderen Fassungen festzustellen wäre, sich daraus – ungeachtet der aktuellen Verfahrenssprache – keine andere Rechtsfolge ableiten ließe als aus den anderen beiden Fassungen. Eine Abweichung im Wortlaut in einer Sprache wäre insoweit zu berücksichtigen, als sie ein Element der Auslegung bilden könnte. Jedoch war im betreffenden Fall die fragliche Bestimmung auch in der angeblich abweichenden Fassung in ihrem Zusammenhang zweifellos so zu verstehen wie die Fassungen in den anderen beiden Amtssprachen, sodass alle drei Fassungen der Bestimmung inhaltlich übereinstimmten (s. auch T 2321/08).
Das EPÜ enthält keine Definition der Begriffe "Tatsache" und "Argument", allerdings unterscheidet Art. 114 (1) EPÜ, wenn auch nur in der englischen Fassung, zwischen Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten ("facts, evidence and arguments"). Die Kammer in der Sache T 1914/12 folgerte daraus, dass der Gesetzgeber hier drei verschiedene Kategorien sah. Geht man von Art. 114 (1) und (2) EPÜ in der englischen Fassung aus, die den gesetzgeberischen Willen wohl am präzisesten ausdrückt, ist laut der Kammer festzuhalten, dass man Argumente von Tatsachen und Beweismitteln unterscheiden muss und dass sich das in Absatz 2 verankerte Ermessen nicht auf verspätet vorgebrachte Argumente erstreckt.
In der Stellungnahme G 1/18 wurden die drei Sprachfassungen speziell in Hinblick auf die Auslegung des Art. 108 EPÜ eingehend untersucht (s. Nr. IV.1 (1) und (2) b) der Gründe).
Auch in der Entscheidung G 4/19 wurde auf Art. 177 EPÜ zusammen mit Art. 33 des Wiener Übereinkommens verwiesen. In Bezug auf die "Travaux préparatoires" hielt die Große Beschwerdekammer bei einem bestimmten Aspekt die deutsche Fassung für aufschlussreicher als die englische Fassung (s. Nr. 88 der Gründe).
Die Kammer in T 844/18 erinnerte daran, dass nach Art. 33 (4) des Wiener Übereinkommens bei einem Bedeutungsunterschied zwischen zwei oder mehr gleichermaßen authentischen Wortlauten diejenige Bedeutung zugrunde gelegt wird, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Die Kammer stellte fest, dass zur Auslegung des Begriffs "any person" in der englischen Fassung von Art. 87 (1) EPÜ der gleichlautende Rechtsbegriff in Art. 4A der Pariser Verbandsübereinkunft ausgelegt werden musste, wobei die Auslegung in beiden Verträgen dieselbe sein musste. Dies warf bestimmte sprachliche Fragen auf, die es zu beachten galt: die authentische Fassung der Pariser Verbandsübereinkunft ist die französische; das EPÜ ist in deutscher, englischer und französischer Sprache abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist (s. Nrn. 30 und 37 ff. der Gründe).