4.2.2 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020
Die Streichung einer Anspruchskategorie, die Streichung eines abhängigen Anspruchs bzw. die Streichung von Alternativen in Ansprüchen wurden unter den Umständen der Fälle T 1480/16, T 2638/16, T 884/18, T 914/18, T 995/18, T 1151/18 und T 1857/19 nicht als Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK 2020 angesehen. Jedoch sahen die Kammern in den Entscheidungen T 713/14, T 1224/15, T 2222/15, T 1597/16, T 1439/16, T 1569/17, T 853/17, T 306/18 und T 482/19, die ebenfalls die Streichung von Ansprüchen oder von Alternativen/Ausführungsformen im Anspruch betrafen, diese als Änderung an und übten ihr Ermessen nach Art. 13 VOBK 2020 aus (ließen die Anträge dann aber in den meisten Fällen zu, nicht jedoch z. B. in T 482/19 und T 2222/15).
Bei der Prüfung, ob eine Änderung vorlag, berücksichtigten die Kammern vielfach, ob die Streichung zu einer völligen Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes führte, ob sie den faktischen und rechtlichen Rahmen änderte, und ob sie eine neue Diskussion hinsichtlich Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit erforderlich machte, oder ob vielmehr die Streichung lediglich zu einer Bereinigung des Verfahrens um einen Streitpunkt führte. Wie von der Kammer in T 914/18 zusammengefasst, wurden die Streichung einer Alternative oder die Streichung abhängiger Ansprüche als reine Beschränkung des Gegenstands betrachtet, die keine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten im Sinne von Art. 13 VOBK 2020 darstellen, sofern sich durch die Streichung keine neue Sachlage ergab.
In T 2091/18 lehnte die Kammer jedoch diese Differenzierung ab. Für den Ansatz, dass die Streichung von Ansprüchen das Beschwerdevorbringen nicht ändere, sofern sich dadurch keine geänderte Sachlage (T 995/18, T 981/17, T 1792/19, T 1857/19) bzw. keine (völlige) Neugewichtung (T 995/18, T 981/17) ergebe, findet sich, so die Kammer, in der Verfahrensordnung keine Stütze. Die Frage, ob eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 vorliege, sei von Erwägungen bezüglich des weiteren Verfahrensablaufs zu trennen.
(i) Streichungen, die nicht als Änderungen angesehen wurden
In T 1480/16 reichte der Beschwerdeführer I (Patentinhaber) in der mündlichen Verhandlung einen Hilfsantrag 5 ein, der auf dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 3 beruhte und in dem lediglich die Verfahrensansprüche gestrichen wurden. Diese Streichung der Verfahrensansprüche wurde von der Kammer nicht als Änderung des Beschwerdevorbringens gesehen, da sich dadurch keine geänderte Sachlage ergab. Es war insbesondere keine neue Diskussion hinsichtlich Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit zu führen. Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer II angegriffenen Aufnahme des Begriffs "gleichzeitig" in das Merkmal l') des Anspruchs 1 führte die Kammer aus, dass dieses nun explizit ausdrücke, was die Einspruchsabteilung in dem von ihr aufrechterhaltenen Anspruch 1 als in Merkmal l) implizit realisiert und damit für die erfinderische Tätigkeit begründend angesehen hatte. Dagegen hatte der Beschwerdeführer II sich mit seiner Beschwerde gewandt. Der Beschwerdeführer I hatte daraufhin bereits mit seiner Beschwerdeewiderung vorsorglich den Hilfsantrag 3 eingereicht und den Begriff "gleichzeitig" in Anspruch 1 aufgenommen. Auch die vom Beschwerdeführer II vorgebrachten Einwände zur Klarheit und unerlaubten Zwischenverallgemeinerung wurden vom Beschwerdeführer I bereits schriftlich in seiner Beschwerdeerwiderung behandelt, so dass darin kein geändertes Vorbringen zu sehen war. Art. (1). Siehe aber auch T 2222/15 und T 1569/17, in denen die Kammern die zu entscheidenden Sachverhalte von T 1480/16 abgrenzten; insbesondere hob die Kammer in T 1569/17 hervor, dass in T 1480/16 umfassender und differenzierter Vortrag zu beiden Anspruchskategorien vorlag.
In T 995/18 beruhte der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag 1 auf dem Hauptantrag der angefochtenen Entscheidung, der mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht worden war; in diesem Antrag wurde lediglich ein abhängiger Anspruch gestrichen. Die Kammer sah in der Streichung des abhängigen Anspruchs keine Änderung des Beschwerdevorbringens, da sich dadurch keine geänderte Sachlage ergab (siehe T 1480/16), wie dies der Fall sein könnte, wenn die Streichung eine völlige Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes mit sich brächte. Vorliegend bereinigte der Verzicht auf einen abhängigen Anspruch das Verfahren nur um einen Streitpunkt, ohne die anderen Ansprüche in ein neues Licht zu setzen und ohne sonstige Auswirkungen auf das Beschwerdevorbringen des Patentinhabers. Wie von der Kammer erläutert, war dieser Verzicht daher vergleichbar mit dem Verzicht auf einzelne Einwände oder Angriffslinien eines Einsprechenden, der zurecht ebenso wenig als unter dem Zulassungsvorbehalt der Kammer stehend angesehen wird (bestätigt in T 914/18). Siehe auch T 2638/16, in der die gleichen Grundsätze auf die Streichung einer alternativen Ausführungsform angewandt wurden, die ebenfalls keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes mit sich brachte.
In T 884/18 beruhte der neue Hauptantrag (eingereicht nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung) auf dem Hauptantrag der angefochtenen Entscheidung, worin jedoch der abhängige Anspruch 8 gestrichen worden war, um die beanspruchte Priorität wiederherzustellen. Die Kammer betonte, dass die Streichung für das Vorbringen beider Beteiligter, das sich in erster Linie auf Anspruch 1 wie erteilt richtete, keine Folgen habe. Nach Ansicht der Kammer folgte daraus, dass diese Änderung keine Veränderung des faktischen und rechtlichen Rahmens der Debatte bis dahin darstellte. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass sie keine Änderung des Vorbringens des Beschwerdegegners (Patentinhabers) im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 darstellte. Siehe auch T 565/16, worin die Kammer erklärte, dass die Streichung abhängiger Ansprüche keine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten im Sinne von Art. 13 (1) EPÜ darstellte.
In T 1857/19, in der alle Vorrichtungsansprüche aus dem während der mündlichen Verhandlung eingebrachten neuen Hauptantrag gestrichen worden waren, stellte die Kammer fest, dass die verbliebene Anspruchskategorie (Verfahrensansprüche) der Hauptgegenstand der Diskussion war. Die Umstände des vorliegenden Falles seien daher denen in T 1480/16 und T 995/18 vergleichbar, bei denen die Streichungen der Ansprüche den faktischen und rechtlichen Rahmen nicht geändert hätten und deshalb nicht als Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten angesehen worden seien.
(ii) Streichungen, die als Änderungen angesehen wurden
In T 482/19 stützten sich die strittigen Hilfsanträge (eingereicht nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung) auf im erstinstanzlichen Einspruchsverfahrens eingereichte Anträge, in denen die Erzeugnisansprüche gestrichen worden waren. Die Kammer machte einen Unterschied zwischen der vorliegenden Sache auf der einen und T 1480/16 (Entscheidung derselben Kammer) auf der anderen Seite. Im vorliegenden Fall war der Verfahrensanspruch stärker eingeschränkt als der Erzeugnisanspruch. Diese beschränkenden Merkmale hatten im Beschwerdeverfahren keine Rolle gespielt, da sich die Ausführungen der Beteiligten hauptsächlich auf die Erzeugnisansprüche bezogen, die in allen eingereichten Anträgen vorlagen. Ließe die Kammer diese Merkmale jedoch zu, müssten sie insbesondere im Hinblick auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden, was zu einer wesentlichen und unerwarteten Änderung der Diskussion in der mündlichen Verhandlung führen würde. Daher stellte die Einreichung der strittigen Hilfsanträge eine Änderung des Vorbringens des Patentinhabers gemäß Art. 13 VOBK 2020 dar. Da der Beschwerdeführer keine außergewöhnlichen Umstände geltend machte, ließ die Kammer den Antrag nach Art. 13 (2) VOBK 2020 nicht zu.
In T 1569/17 führte die Kammer aus, dass gemäß der Rechtsprechung bei Einreichen eines Anspruchssatzes, der sich durch die Streichung von Ansprüchen gegenüber einem zuvor im Verfahren eingereichten Antrag unterscheidet, eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 verneint werden könne, wenn sich hierdurch keine geänderte Sachlage bzw. keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes ergibt (T 1480/16; T 995/18). Sie hob jedoch hervor, dass T 1480/16 einen Fall betraf, in dem die Patentierbarkeit des Vorrichtungs- und Verfahrensanspruchs bereits im erstinstanzlichen Verfahren getrennt geprüft und unterschiedlich entschieden worden war. Weiterhin war aus Sicht der Kammer festzuhalten, dass im Beschwerdeverfahren zu T 1480/16 die Beteiligten unterschiedliche Argumente zum Vorrichtungs- und zum Verfahrensanspruch vorgetragen hatten und insoweit ein umfassender und differenzierter Vortrag zu beiden Anspruchskategorien vorlag. Der vorliegende Fall war hingegen anderes gelagert. Der am Ende der mündlichen Verhandlung gestellte Hilfsantrag 9 war der erste Antrag im Beschwerdeverfahren, der keinen Erzeugnisanspruch umfasste (während im höherrangigen Hilfsantrag 8 alle Verfahrensansprüche gestrichen worden waren).
Für weitere Entscheidungen, in denen Streichungen als Änderungen angesehen wurden (aber die Anträge zugelassen wurden), siehe z. B. T 1597/16 (Beschränkung auf zwei von drei Ausführungsformen für ein Merkmal, kein anderer sachlicher bzw. patentrechtlicher Streitgegenstand, dennoch Ermessensausübung, zugelassen), T 682/16 (Streichung der Ansprüche 48–53, kein Einwand des Einsprechenden, zugelassen), T 1224/15 (Streichung eines abhängigen Anspruchs, die zu keinem neuen Einwand führt, Verweis auf T 1480/16, aber Ermessensausübung nach Art. 13 (2) VOBK 2020, Antrag zugelassen), T 1439/16 (Streichung von Anspruch 1 aus Hilfsantrag 6 wurde als Änderung angesehen, mit der jedoch kein neuer Gegenstand eingeführt wurde, der erörtert werden musste, zugelassen), T 853/17 (Beibehaltung lediglich der im erteilten Patent definierten Produktansprüche, zugelassen), T 306/18 (Hilfsantrag 1", der sich auf den einzigen Verfahrensanpruch des Patents in seiner erteilten Fassung beschränkt, zugelassen), T 713/14 (Hilfsantrag I: Streichungen von Alternativen aus unabhängigen Ansprüchen, zugelassen; Hilfsantrag II: Einschränkung des Gegenstands auf Ausführungsformen abhängiger Ansprüche, zugelassen), T 2091/18 (Streichung aller Vorrichtungsansprüche, Hauptantrag zugelassen). Vgl. auch die etwas anders gelagerten Fälle T 2787/17 (Einschränkung auf zwei konkrete Ausführungsformen, eine davon wurde allerdings bisher nur in der Beschreibung offenbart) und T 2222/15 (Hilfsanträge 2.2 und 2.3, Streichung von Verfahrensansprüchen, Einreichung ohne Begründung).
- T 532/20
Catchword:
In general, an auxiliary request which is directed to a combination of granted dependent claims as new independent claim, and filed after the statement of grounds or the reply thereto, will be an amendment of the party's appeal case within the meaning of Article 13 RPBA 2020. See reasons 9. A skilled person assessing the contents of the original application documents uses his technical skill. If they recognise that certain elements of the original application documents are essential for achieving a technical effect then adding that technical effect to a claim without also adding the essential elements can create fresh subject-matter even if the essential elements are originally portrayed as being optional. See reasons 3.6.3.
- T 2295/19
Catchword:
Änderung eines Anspruchssatzes durch Streichung von Ansprüchen. Zur Frage seiner Zulassung unter Artikel 13 (2) RPBA 2020 siehe Entscheidungsgründe Nr. 3.4.1 bis 3.4.14
- T 2201/19
Catchword:
Ein nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereichter neuer Hilfsantrag, der nur noch einen bereits im von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Hauptantrag enthaltenen unabhängigen Verfahrensanspruch enthält, während alle anderen vorrangigen (Produkt-)Ansprüche gestrichen wurden, kann dann nicht als grundsätzlich unberücksichtigt bleibende Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne des Artikels 13(2) VOBK 2020 angesehen werden, wenn das bisherige Vorbringen der Beteiligten bereits eine hinreichende Grundlage zur Entscheidung über den neuen Hilfsantrag bietet (abweichend von T 2091/18, vgl. Punkt 5 der Gründe).
- T 355/19
Catchword:
Modification des moyens selon l'article 13(2) RPCR ; recevabilité de requêtes dans lesquelles certaines revendications indépendantes sont supprimées ; échelonnement des requêtes subsidiaires déposées tout au long de la procédure de recours qui donne lieu à une approche "par tâtonnements" ou une tactique par élimination (tactique du "salami") (voir points 2 et 3 des motifs).
- T 2920/18
Catchword:
Amendment of a set of claims by deletion of claims. Admittance of said amended set of claims pursuant to Article 13(2) RPBA 2020: see points 3.1 to 3.16 of the Reasons for the Decision.
- T 494/18
Catchword:
A request in which some claims have been deleted compared to the requests that were filed previously with the grounds of appeal or the reply is, according to the systematic context of Article 12(3) RPBA 2020 and Article 13 RPBA 2020, a new request and thus usually amounts to an "amendment to the party's appeal case".
- T 2360/17
Catchword:
As to the divergence in the jurisprudence of the Boards of Appeal concerning the notion of an "amendment" within the meaning of Article 12(4) RPBA 2020, see point 2.4 of the Reasons.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache