5.1.4 Zeitrahmen für die Einreichung von Änderungen
i) Kriterien in einem späteren Verfahrensstadium – Allgemeines
In T 491/09 wurde die Entscheidung der Einspruchsabteilung, einen während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag zum Verfahren zuzulassen, vor der Kammer angefochten. Die Kammer kam in ihrer Entscheidung zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung durch Berücksichtigung der folgenden Kriterien ihr Ermessen korrekt ausgeübt hatte:
a) Prima-facie-Gewährbarkeit (hier: nach Auffassung der Abteilung räumte der Antrag prima facie die auf Art. 100 b) und c) EPÜ gestützten Einspruchsgründe aus, und aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung war ersichtlich, dass keine Klarheitseinwände erhoben worden waren);
b) Verfahrensökonomie/Verfahrensmissbrauch (Überleitung ins schriftliche Verfahren nicht notwendig; Verhalten des Patentinhabers war kein Verfahrensmissbrauch und hatte keinen ungerechtfertigten Vorteil für ihn zur Folge).
c) die begründete Erwartung, dass der Einsprechende sich mit den vorgeschlagenen Änderungen in der verfügbaren Zeit vertraut macht (aus der Niederschrift geht hervor, dass dem Einsprechenden hinlänglich Gelegenheit gegeben wurde, sich mit dem geänderten Gegenstand vertraut zu machen).
Eine weitere Entscheidung, in der die Anwendung ähnlicher Kriterien (Prima-facie-Gewährbarkeit, Verfahrensökonomie, Verfahrensmissbrauch, Zumutbarkeit für die Beteiligten, sich in der zur Verfügung stehenden Zeit mit den vorgeschlagenen Änderungen vertraut zu machen) auf einen zehn Tage vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrag bejaht wird, ist z. B. T 500/15, die auch auf das Kriterium der Komplexität von Änderungen sowie auf die Notwendigkeit einer individualisierten Begründung unter Berücksichtigung des konkreten Antrags eingeht. In dieser Entscheidung stellte die Kammer auch fest, dass es keine Rechtsgrundlage dafür gibt, einen Antrag allein deshalb nicht zuzulassen, weil er nach einem von der Einspruchsabteilung festgesetzten Zeitpunkt eingereicht wurde.
In T 1930/14 hatte die Einspruchsabteilung den Zeitpunkt der Einreichung des Hilfsantrags (der früher hätte eingereicht werden können), seine Komplexität und seine Prima-facie-Gewährbarkeit berücksichtigt. Die Kammer war der Überzeugung, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte.
In T 1344/15 billigte die Kammer es, dass die Einspruchsabteilung weitere in der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge zugelassen hatte, weil die Einreichung eine Reaktion auf eine Meinungsänderung der Einspruchsabteilung und ein geeigneter Versuch zur Entkräftung des entsprechenden Einwands war.
In T 368/16 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Einreichung mehrerer Hilfsanträge gestattet. Sie hatte schließlich Antrag IIIb zugelassen. Den Verfahrensanspruch 1 dieses Antrags hatte sie für neu befunden, nicht aber dessen Erzeugnisanspruch 23. Daraufhin hatte der Patentinhaber einen weiteren Antrag eingereicht, der nur die Verfahrensansprüche 1 bis 22 des Antrags IIIb umfasste. Diesen Antrag IVa hatte die Einspruchsabteilung nicht zugelassen. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach R. 116 (2) EPÜ nicht auf angemessene Weise und nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte, und begründete dies wie folgt: Der Antrag als solcher war geeignet, alle bis dahin in der mündlichen Verhandlung erörterten Einwände zu entkräften. Selbst wenn die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit noch ausstand, konnte die Einreichung des Antrags IVa nicht als eine unnötige Verlängerung des Verfahrens gewertet werden; im Gegenteil: da er auf einer konvergenten Einschränkung gegenüber dem Antrag IIIb und einer Kombination von aus den erteilten Ansprüchen abgeleiteten Merkmalen beruhte, verringerte er eindeutig die Zahl der noch zu erörternden Fragen. Siehe auch T 222/16.
In T 879/18 befand die Kammer, dass ein Patentinhaber Gelegenheit zu Änderungen erhalten sollte, wenn neue Tatsachen und Beweismittel zugelassen worden sind (hier: neuer Neuheitseinwand, der vom Einsprechenden erstmals in der mündlichen Verhandlung erhoben wurde und auf neuen Dokumenten und einer neuen Auslegung eines Begriffs in Anspruch 1 beruhte), weil sich dadurch der Gegenstand des Verfahrens ändert. Im vorliegenden Fall war nach Auffassung der Kammer die Aufnahme von Einzelheiten aus der Beschreibung eine angemessene Reaktion und hätte zugelassen werden sollen. Auch in T 222/16 befand die Kammer, dass der Patentinhaber wenigstens eine Gelegenheit hätte erhalten sollen, einen neuen Antrag in Reaktion auf den neuen Einwand einzureichen, der vom Beschwerdegegner (Einsprechenden) erstmals am letzten Tag der Frist nach R. 116 EPÜ erhoben worden war. Zu den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs und der Gleichbehandlung der Beteiligten siehe auch T 487/13 (weiter oben unter b) zusammengefasst) und T 623/12.
ii) Prima-facie-Gewährbarkeit
In vielen Entscheidungen urteilten die Beschwerdekammern, dass eine Entscheidung einer Einspruchsabteilung, Anträge nicht zuzulassen, die prima facie nicht gewährbar waren und in einem späten Stadium des Verfahrens eingereicht wurden, im pflichtgemäßen Ermessen getroffen wurde (s. z. B. T 171/03, T 484/11, T 1737/12, T 108/14, T 2332/15, T 1710/18). In T 586/16 erkannte die Kammer an, dass die Prima-facie-Gewährbarkeit normalerweise das richtige Kriterium sei; im vorliegenden Fall hätte die Einspruchsabteilung jedoch den Hilfsantrag zulassen sollen, weil er eine Reaktion auf eine Meinungsänderung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung gewesen sei.
In T 2683/17 urteilte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung mit der Zulassung des dritten in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags ihr Ermessen pflichtgemäß und nach Maßgabe des richtigen Kriteriums der Prima-facie-Gewährbarkeit ausgeübt habe, da sie die Änderungen prima facie für geeignet erachtet habe, den gegen die früheren Anträge erhobenen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ auszuräumen, und da auch weitere Erfordernisse, insbesondere die Einhaltung von Art. 84 EPÜ, prima facie erfüllt gewesen seien.
In T 222/16 stellte die Kammer fest, dass der in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung in Erwiderung auf eine Änderung des Verfahrensgegenstands eingereichte dritte Hilfsantrag nach R. 116 (2) EPÜ hätte zugelassen werden sollen. Darüber hinaus sei nach ständiger Rechtsprechung das relevante Kriterium bei der Entscheidung über die Zulässigkeit verspätet eingereichter Anträge deren Prima-facie-Gewährbarkeit in Anbetracht des zu erörternden Einwands. Dieses Kriterium sei im vorliegenden Fall erfüllt gewesen, da die Änderung in Anspruch 1 eindeutig geeignet gewesen sei, den Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ auszuräumen. Die Änderung räume auch den Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ aus, den die Abteilung für relevant erachtet hatte. Deshalb hätte der Antrag zugelassen werden sollen. Für die Kammer war das Konvergenzkriterium, auf das sich die Abteilung stützte, von nachrangiger Bedeutung im Zusammenhang mit Einwänden nach Art. 123 (3) EPÜ.
In T 84/17 argumentierte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), dass die Einspruchsabteilung entschieden habe, dessen in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsanträge nicht zum Verfahren zuzulassen. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt habe, denn sie habe nur geprüft, ob die Anträge rechtzeitig eingereicht wurden, und nicht auch, ob sie prima facie begründet waren. Die Kammer gelangte jedoch zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in vertretbarer Weise ausgeübt und die richtigen Kriterien angewandt hatte. Wie die Einspruchsabteilung richtigerweise betont habe, seien die Hilfsanträge ohne angemessene Begründung sehr spät eingereicht worden (in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung, nachdem der Vorsitzende die Schlussfolgerung verkündet hatte, dass der erteilte Anspruch 1 nicht neu sei), obwohl die zugrunde liegenden Einwände seit Einlegung des Einspruchs aktenkundig gewesen seien und ihre Relevanz in der Anlage zur Ladung kommentiert worden sei. Im Übrigen basiere die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Anträge nicht zuzulassen, nicht ausschließlich auf der ungerechtfertigten Verspätung, sondern auch auf der Feststellung, dass von den Einsprechenden nicht erwartet werden könne, sich mit dem spezifischen, durch diese Hilfsanträge eingeführten beschränkten Gegenstand zu befassen, d. h. die Einspruchsabteilung hatte die Änderungen auch materiell geprüft. Nach Auffassung der Kammer erübrigt es sich, alle Kriterien zu erörtern, wenn die Argumente im konkreten Einzelfall zeigten, dass einige Kriterien so viel Gewicht haben, dass andere sie nicht aufwiegen können.
iii) Verfahrensmissbrauch
In T 28/10 kehrte der Patentinhaber, nachdem er im schriftlichen Verfahren einen eingeschränkten Anspruchssatz verteidigt hatte, in der mündlichen Verhandlung zu den erteilten Ansprüchen zurück. Die Einspruchsabteilung übte ihr Ermessen dahingehend aus, diesen Antrag nicht in das Verfahren zuzulassen, da sie in dessen später Vorlage einen Verfahrensmissbrauch sah. Dabei berücksichtigte sie auch, dass der Patentinhaber selbst eingeräumt hatte, dass der Antrag nicht den Erfordernissen des Art. 54 EPÜ entsprach. Die Kammer konnte keinen Ermessensfehler erkennen.
Auch in T 2385/12 kehrte der Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu den erteilten Ansprüchen zurück. Die Einspruchsabteilung ließ diesen Antrag zu. Die Kammer urteilte, dass es zwar Fälle geben kann, in denen die Rückkehr zu den erteilten Ansprüchen in einem späten Stadium des Einspruchsverfahrens als Verfahrensmissbrauch angesehen wird, doch sei dies angesichts der vorliegenden besonderen Umstände (Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ entkräftet, keine Hinweise auf einen bewussten Versuch, den Einsprechenden zu täuschen) hier nicht der Fall. Siehe auch T 1770/16.
Zum Begriff des Verfahrensmissbrauchs siehe auch die in Kapitel IV.C.4.5.5 zusammengefassten Entscheidungen zum verspäteten Vorbringen und insbesondere T 85/18, der zufolge ein Verfahrensmissbrauch ein absichtliches Fehlverhalten und keine bloße Sorgfaltsverletzung impliziert.
iv) Begründete Erwartung, dass der Einsprechende sich mit den vorgeschlagenen Änderungen in der verfügbaren Zeit vertraut macht
Ob dem Einsprechenden die Behandlung der Änderung in der mündlichen Verhandlung zuzumuten ist (s. vorstehende Zusammenfassung von T 491/09), wurde auch in T 2415/13 als geeignetes Kriterium erachtet. In ähnlicher Weise billigte die Kammer in T 281/99 die Zulassung von Änderungen durch die Einspruchsabteilung, die in der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden und geringfügig waren (sowie in direkter Reaktion auf neue Einwände erfolgten).
In T 463/95 wies die Kammer darauf hin, dass es erwartet werden könne, dass ein neuer oder geänderter unabhängiger Anspruch berücksichtigt werde, wenn er auf einer Kombination von Merkmalen beruhe, die erteilten, ausdrücklich angefochtenen Ansprüchen entnommen seien, da der Einsprechende mit dem Gegenstand bereits vertraut sein dürfte matter (ähnlich in T 577/97; abweichend von T 960/04).
In T 1261/13 betonte die Kammer, dass Sinn und Zweck der R. 116 EPÜ ist, allen Beteiligten sowie der Abteilung genügend Zeit für eine sorgfältige Vorbereitung der mündlichen Verhandlung einzuräumen. Daher seien in der Regel Anträge, die vor Ablauf der Frist nach R. 116 EPÜ eingereicht werden und R. 80 EPÜ erfüllen, zuzulassen. Dies galt nach Auffassung der Kammer auch für Anträge, in denen Anspruchsmerkmale aus der Beschreibung aufgenommen wurden.
In der Sache T 43/16 hatte die Einspruchsabteilung die Rückkehr zu den erteilten Ansprüchen zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung als unzulässig angesehen. Nach Ansicht der Kammer war es dem Einsprechenden aber durchaus zuzumuten, sich in dieser Zeit erneut mit den erteilten Ansprüchen und der eigenen Argumentation in der Einspruchsschrift auseinanderzusetzen.
v) Ausübung des Ermessens auf der Grundlage des Inhalts der Änderung – in der Regel keine Zurückweisung weiterer Änderungen ohne Rücksicht auf deren Inhalt
Ob eine Änderung sachdienlich ist, kann in der Regel nur anhand ihres lnhalts beantwortet werden, also erst dann, wenn sie tatsächlich vorliegt. Eine pauschale Ablehnung jeglicher weiterer Änderungen ist nur dann vertretbar, wenn nach mehreren erfolglosen Änderungen erkennbar ist, dass sich der Patentinhaber nicht ernsthaft um eine Entkräftung der Einwände bemüht, sondern nur das Verfahren verschleppt (T 132/92; s. auch T 623/12 und T 1758/15, die auf T 246/08 verweist).
In T 802/17 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eingeräumt, "einen zusätzlichen Antrag zu formulieren". Da diese jedoch in der Folge nur einen geänderten Hauptantrag einreichte, würde ihr späteres Ersuchen, auch noch geänderte Hilfsanträge einreichen zu dürfen, abgelehnt. Die Kammer sah die verfahrensökonomischen Gesichtspunkte nicht für geeignet, die Nichtzulassung im vorliegenden Fall zu rechtfertigen, da der Patentinhaber auf eine überraschende Verfahrenslage reagiert hatte und die Änderung den neuen Einwand nach Art. 123(2) EPÜ ausräumte.
In T 756/18 befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung die Grenzen ihres Ermessens überschritten hatte, da sie nur einen Hilfsantrag zuließ und weitere Anträge sofort und ohne offensichtliche triftige Gründe zurückwies, ohne zumindest geprüft zu haben, ob die Änderungen alle bis dahin wirksam vorgebrachten Einwände zu entkräften vermocht hätten, ohne neue zu begründen, sodass sie potenziell zulässig gewesen wären. Der Fall ließ keine Anzeichen eines Verfahrensmissbrauchs oder einer Verzögerungstaktik des Beschwerdeführers erkennen.
- T 1617/20
Catchword:
Prima facie allowability under Article 123(2) EPC of a late filed amended claim request may be a valid criterion to be used by the opposition division when deciding on the admittance of this claim request. However, using this criterion, to object for the first time at oral proceedings to a feature of the late-filed claim request that was already present in higher ranking claim requests and had never been objected to before, not even when deciding on the allowability or admittance of those higher-ranking claim requests, goes against the principles of fairness and good faith (see point 2.6.11 of the reasons).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”