5.5.1 Mehrdeutige Parameter
Sowohl in T 485/00 als auch in T 225/93 waren im Stand der Technik drei Verfahren zur Bestimmung der spezifischen Flächenausdehnung von CaCO3-Partikeln bekannt. In beiden Fällen wurde weder in der Beschreibung noch im allgemeinen Fachwissen einem Verfahren der Vorzug gegeben. In T 485/00 urteilte die Kammer, dass die Nachbildung eines Beispiels und das Vermessen der Oberfläche des erhaltenen Erzeugnisses anhand von zwei oder drei wohlbekannten Verfahren für den Fachmann keinen unzumutbaren Aufwand darstelle. In T 225/93 stellte die Kammer jedoch fest, dass es drei unterschiedliche Messverfahren gebe, die nicht immer zu demselben Ergebnis führten, was einen unzumutbaren Aufwand bedeute.
In T 473/15 stellte die Kammer fest, dass die Schlussfolgerungen von T 225/93 nicht angewandt werden konnten, da anders als im vorliegenden Fall dort den möglichen Messverfahren völlig unterschiedliche Prinzipien (Permeabilität, Photometrie und Adsorption) zugrunde lagen und die Beteiligten sich einig waren, dass die verschiedenen Verfahren unterschiedliche Ergebnisse lieferten. In der Sache T 473/15 hingegen erbrachten die Beschwerdeführer (Einsprechenden) keinen Beweis dafür, dass wesentliche Abweichungen zwischen den verschiedenen Definitionen für den Faserdurchmesser vorlägen.
In T 147/12 zielte der Einwand des Beschwerdeführers (Einsprechenden) nicht darauf ab, dass es kein Verfahren zur Bestimmung des Alkalimetallgehalts in Polyethern gab. Vielmehr argumentierte der Beschwerdeführer unter Verweis auf D7 (wissenschaftliche Veröffentlichung), D8 (Studie) und D11 (vom Einsprechenden vorgelegter Versuchsbericht), dass der ermittelte Wert für den Alkalimetallgehalt in dem Polyether vom jeweils verwendeten Analyseverfahren abhänge. Die Kammer stellte fest: Selbst wenn die Messbedingungen – wie vom Beschwerdeführer behauptet – zu Variationen im gemessenen Alkalimetallgehalt führten, bedeute dies alleine noch keine unzureichende Offenbarung des beanspruchten Gegenstands insgesamt, da nicht gezeigt worden sei, dass die Ungewissheit bezüglich des Alkalimetallgehalts das beanspruchte Verfahren in solchem Umfang beeinflusse, dass der Fachmann, der das Verfahren durchführen wolle, mit einem unzumutbaren Aufwand konfrontiert sei. Der Beschwerdeführer habe gezeigt, dass der Fachmann aufgrund der Ungewissheit bezüglich des Messverfahrens für den Alkalimetallgehalt nicht feststellen könne, ob der von ihm ermittelte Wert innerhalb oder außerhalb des beanspruchten Bereichs liege. Allerdings wurde nicht gezeigt, dass der Fachmann infolge dieser Ungewissheit grundsätzlich daran gehindert würde, einen Polyether gemäß Anspruch 1 herzustellen. Die Kammer erklärte, dass T 83/01 (Fachmann nicht in der Lage, den beanspruchten Parameter zu messen) und T 815/07 (in Anspruch 1 definiertes Testverfahren, das völlig willkürliche Werte ergab) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sind.
In T 345/16 befand die Kammer, dass die Messung einer "Teilchengröße" – eines auf dem betreffenden technischen Gebiet gängigen Parameters – lediglich die Auswahl und Anwendung eines der auf diesem Gebiet bekannten Verfahren erfordern würde, was keinen unzumutbaren Aufwand oder erfinderisches Zutun bedingte. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) argumentierte, dass das Streitpatent keine Angaben darüber enthalte, wie die "Teilchengröße" zu messen sei und dass dies zu erheblichen Unstimmigkeiten bei den Ergebnissen führen würde. Die Kammer war von dieser Argumentation nicht überzeugt, da jede mögliche Unstimmigkeit, die sich aus der Wahl eines bestimmten Messverfahrens (aus einer Reihe bekannter verfügbarer Alternativen) ergibt, nur die Abgrenzung des Schutzbereichs und nicht die Ausführbarkeit der Erfindung beeinträchtigen würde. In diesem Zusammenhang wies die Kammer darauf hin, dass im Einklang mit einer Reihe von Entscheidungen (z. B. T 378/11, in der es genau um den Parameter "Teilchengröße" geht) Probleme der Abgrenzung nach Art. 84 EPÜ und nicht nach Art. 83 EPÜ behandelt werden müssen. Da das Merkmal "Teilchengröße" Bestandteil der Ansprüche in der erteilten Fassung war, war die Kammer nicht befugt, die Einhaltung von Art. 84 EPÜ zu beurteilen (G 3/14). Die Kammer stellte ferner fest, dass es gemäß Anspruch 1 nicht erforderlich ist, die primäre Teilchengröße und die Agglomeratgröße gleichzeitig und nicht sequenziell zu messen. Darüber hinaus stehen eine Reihe bekannter optischer Methoden zur Verfügung, die sowohl eine gleichzeitige (z. B. visuelle Analyse der agglomerierten Teilchen zur Abschätzung der Größe der Agglomerate und der in diesen Agglomeraten identifizierbaren primären Teilchen) als auch eine sequenzielle Messung ermöglichen würden. In jedem Fall hat der Beschwerdeführer keine Beweise zur Stützung seiner Behauptungen vorgelegt.
In T 1154/12 mangelte es nach Auffassung des Beschwerdegegners (Einsprechenden) dem Patent an ausreichender Offenbarung, weil es nicht das Verfahren definiere, das zur Messung und Berechnung der "mittleren Teilchengröße" gemäß Anspruch 1 verwendet werden sollte. Die Kammer war von diesem Argument nicht überzeugt. Unbestritten ist, dass für den Fachmann mehrere Methoden zur Messung oder Berechnung der mittleren Teilchengröße denkbar waren. Ob die Verwendung mehrerer Arten der Messung oder Berechnung der mittleren Teilchengröße zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, ist jedoch eine Frage der Abgrenzung des unabhängigen Anspruchs, d. h. eine Frage der Klarheit und nicht der ausreichenden Offenbarung (s. T 378/11).
In T 2666/17 wurde der Beitrag von T 815/17 bestätigt und zusammengefasst (ill-defined Parameter) und festgestellt, dass die Oberflächenspannung ein bekannter Parameter ist, der mit bekannten Verfahren gemessen werden kann. Dass das Messverfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde, würde den Fachmann nicht daran hindern, die Erfindung nachzuarbeiten, sondern lediglich Zweifel aufkommen lassen, ob bestimmte Ausführungsformen am Rande des Schutzbereichs in den verbotenen Bereich fallen oder nicht (Art. 84 EPÜ).
In T 1960/14 (Parameter – Schmelzpunkt einer Palmöl-Fraktion) stellte die Kammer fest, dass der Fachmann (allgemeines Fachwissen) drei geeignete Standardverfahren kennt. Der Beschwerdegegner (Einsprechende) behauptete, dass diese Verfahren signifikant unterschiedliche Ergebnisse lieferten, legte aber keine Versuchsdaten vor. Angesichts der in D22 offenbarten Versuche kam die Kammer in Übereinstimmung mit dem Patentinhaber zu dem Schluss, dass alle drei Verfahren sehr ähnliche Ergebnisse lieferten und nur an den Rändern der beanspruchten Bereiche Unsicherheiten aufwiesen. In T 1960/14 wurde die Feststellung aus T 608/07 bestätigt, dass es für einen Einwand mangelnder Offenbarung aufgrund von Mehrdeutigkeit nicht ausreicht, das Vorhandensein einer solchen Mehrdeutigkeit – in diesem Fall an den Rändern des beanspruchten Schmelzpunktbereichs aufgrund der fehlenden Angabe des Messverfahrens – nachzuweisen. In der Regel muss auch gezeigt werden, dass die Mehrdeutigkeit den Fachmann der Möglichkeit beraubt, die Erfindung wie vorgesehen zu nutzen ("promise of the invention"). Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdegegner (Einsprechende) keine entsprechenden technischen Nachweise vorgelegt. Der Beschwerdegegner in T 1960/14 verwies auch auf T 575/05 und argumentierte, dass in einer ähnlichen Situation eine Kammer entschieden habe, dass zwar Standards vorhanden seien, das Patent jedoch keine ausreichenden Hinweise enthalten habe, welcher anzuwenden sei (Erfindung unzureichend offenbart). Nach Auffassung der Kammer in T 1960/14 gab es im Gegensatz zu T 575/05, wo viele häufig verwendete, aber nicht klar definierte Verfahren zur Bestimmung eines Parameters zur Verfügung standen und somit zu einem hohen Maß an Unsicherheit für den Fachmann führten, der die Erfindung ausführen wollte, am Prioritätstag des Streitpatents nur drei klar definierte Standardverfahren zur Bestimmung des Schmelzpunktes von Palmöl-Fraktionen, die sehr ähnliche Ergebnisse mit einem relativ geringfügigen Grad an Mehrdeutigkeit/Unsicherheit nur an den Rändern des beanspruchten Bereichs lieferten. Ferner wurde auf Art. 84 EPÜ eingegangen (abweichend von T 256/87 und T 815/07).
In der Sache T 786/15 existierten zahlreiche Verfahren zur Messung des Tg-Parameters, von denen dem Fachmann drei bekannt waren und im Patent keines angegeben war. Um festzustellen, ob der Tg-Parameter ungenau definiert ("so ill-defined") war, musste geprüft werden, welche Verfahren der Fachmann in Betracht ziehen würde. Unter Bezugnahme auf T 608/07 (Nr. 2.5.2 der Gründe) gelangte die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Mehrdeutigkeit im Randbereich der im Anspruch genannten Werte auftrat, was für sich genommen nicht den Schluss der unzureichenden Offenbarung zuließ.
S. auch in diesem Kapitel T 492/92 (zwei vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Verfahren); T 1414/08 (Parameter Zugfestigkeit – Papier – nicht für unüblich erachtet – aber kein spezielles Messverfahren offenbart – mehrere standardisierte Testverfahren im Stand der Technik – Konsequenzen – mehrdeutige Endwerte – Umfang – Frage von Art. 84 EPÜ).