5.3. Anwendbarkeit von Regel 137 (5) EPÜ
Der Umfang der Recherche im Stand der Technik, die für den europäischen Recherchenbericht durchzuführen ist, ist in Art. 92 EPÜ definiert. Dort ist festgelegt, dass der europäische Recherchenbericht vom EPA "auf der Grundlage der Patentansprüche unter angemessener Berücksichtigung der Beschreibung und der vorhandenen Zeichnungen" erstellt wird. Soweit es möglich und sinnvoll ist, sollte die Recherche grundsätzlich den gesamten Gegenstand erfassen, auf den die Ansprüche gerichtet sind oder auf den sie einer vernünftigen Annahme zufolge nach einer Anspruchsänderung gerichtet werden könnten (Richtlinien B‑III, 3.5 – Stand März 2022).
In T 708/00 (ABl. 2004, 160) war die Anmeldung von der Prüfungsabteilung vor allem mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass die neuen Ansprüche nach R. 86 (4) EPÜ 1973 nicht gewährbar seien. Die Kammer erklärte, dass die Bestimmungen des Art. 92 (1) EPÜ 1973 nicht dazu führen dürfen, dass die Recherche auf den Gegenstand der Ansprüche allein beschränkt wird, auch wenn ein solches Vorgehen für die Recherchenabteilungen die einfachste Lösung wäre. Das heißt auch nicht, dass die Beschreibung und die Zeichnungen nur zur Auslegung der Ansprüche dienen sollten. Vielmehr bedeutet es, dass die Recherchenabteilung über einen Ermessensspielraum verfügt, der mit Bedacht genutzt werden soll, damit sich die Recherche genau auf den Gegenstand der Patentanmeldung (s. R. 44 (1) EPÜ 1973), das heißt die Erfindung, bezieht, auch wenn die wesentlichen Merkmale zum Zeitpunkt der Recherche noch nicht sämtlich in den Ansprüchen definiert, sondern beispielsweise in der Beschreibung oder den Zeichnungen offenbart wären. Im vorliegenden Fall wurde der Gegenstand der Erfindung, auf den sich die Recherche tatsächlich erstreckte, dem Anmelder nicht mitgeteilt, und so verfügte weder die Prüfungsabteilung noch die Beschwerdekammer über irgendwelche Auskünfte hierzu. Folglich war es unmöglich nachzuprüfen – da kein negativer Beweis erbracht werden konnte –, welche Gegenstände nach R. 86 (4) EPÜ 1973 "nicht recherchiert" worden sind. Es mussten demzufolge ergänzende Auslegungsmittel wie die vorbereitenden Dokumente oder die anlässlich der Einführung der genannten Regel veröffentlichten Dokumente herangezogen werden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass geänderte Ansprüche aufgrund der R. 86 (4) EPÜ 1973 nur dann zurückgewiesen werden dürfen, wenn der Gegenstand der ursprünglich eingereichten Ansprüche und derjenige der geänderten Ansprüche so geartet sind, dass im hypothetischen Fall der ursprünglich gleichzeitigen Einreichung all dieser Ansprüche neben einer Recherchengebühr für die ursprünglich tatsächlich eingereichten Ansprüche auch eine weitere Recherchengebühr für die geänderten Ansprüche, die einer weiteren Erfindung im Sinne der R. 46 (1) EPÜ 1973 entsprachen, zu entrichten gewesen wäre. Bei der Auslegung der R. 86 (4) EPÜ 1973 ist sorgfältig abzuwägen zwischen dem Zweck dieser Regel, nämlich dem Interesse des Amts, für seine Leistungen Recherchen- und Prüfungsgebühren zu erheben, und dem vom EPÜ dem Anmelder zuerkannten Grundrecht, zumindest einmal Änderungen der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen vorzunehmen, die sich im Erteilungsverfahren als notwendig erweisen. In Anbetracht des Zwecks der R. 86 (4) EPÜ 1973 und des Eingriffs in das Grundrecht des Anmelders, die Anmeldung zumindest einmal zu ändern, ist diese R. 86 (4) EPÜ 1973 eng auszulegen (s. auch T 141/04). Die Kammer führte aus, dass die R. 86 (4) EPÜ 1973 nicht auf den Fall anwendbar sei, dass der Anmelder ungeachtet der Aufforderung nach R. 46 (1) EPÜ 1973 keine Recherchengebühr für eine uneinheitliche Erfindung entrichtet habe, auf die die ursprünglich eingereichten Ansprüche gerichtet gewesen seien. Für eine solche Erfindung könne er seine Anmeldung nicht weiterverfolgen, sondern müsse eine Teilanmeldung einreichen, wenn er dafür Schutz begehre (s. G 2/92, ABl. 1993, 591). Die Kammern in T 319/96 und T 631/97 (ABl. 2001, 13) haben klar unterschieden zwischen der Anwendung von R. 86 (4) EPÜ 1973 und dem Fall, dass Recherchengebühren trotz einer entsprechenden Aufforderung nach R. 46 (1) EPÜ 1973 nicht gezahlt wurden.
In T 789/07 stellte die Kammer fest, dass, um ein beanspruchtes Merkmal im Sinne von Art. 92 EPÜ – und im Einklang mit den Richtlinien – vollständig recherchieren zu können, die Recherchenabteilung in der Regel feststellen muss, wie dieses Merkmal im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen ist. Nur auf diese Weise kann die Recherchenabteilung zu einer begründeten Einschätzung darüber gelangen, mit welchen Anspruchsänderungen im Zuge des Prüfungsverfahrens und im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung gerechnet werden kann. Diese Auslegung ist auch für den Vergleich mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung oder Gruppe von Erfindungen im Hinblick auf R. 86 (4) EPÜ 1973 zugrunde zu legen. Die Kammer war auch der Ansicht, dass ein beanspruchtes Merkmal, das unter den Recherchenumfang fällt, im Sinne von R. 86 (4) EPÜ 1973 als recherchiert angesehen werden muss, selbst wenn es tatsächlich im Einzelfall nicht recherchiert worden ist (s. auch T 2334/11, T 1679/10, T 345/13, T 1503/13). Wie die Kammer in T 1679/10 hinzufügte, ginge es zu weit, die Richtlinien so auszulegen, dass es ausreichen würde, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einen breit gefassten unabhängigen Anspruch ohne abhängige Ansprüche umfasst, damit ein Anrecht auf eine Recherche zu allen Merkmalen einer Vielzahl von Ausführungsarten besteht, die unter den Wortlaut dieses Anspruchs fallen.
In T 264/09 wurde festgestellt: Wird ein nicht recherchiertes Merkmal, das etwas näher definiert, was bereits Teil eines recherchierten Anspruchs ist, aus der Beschreibung in diesen Anspruch übernommen, um einen Einwand nach dem EPÜ (z. B. mangelnde erfinderische Tätigkeit) zu entkräften, so ist der sich daraus ergebende Anspruch nicht in der Weise geändert worden, dass er sich auf einen nicht recherchierten Gegenstand bezieht, der mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung nicht durch eine einzige allgemeine erfinderische Idee verbunden ist (s. auch T 2334/11, T 1503/13). Die Kammer folgte damit der ständigen Rechtsprechung zur Auslegung von R. 86 (4) EPÜ 1973 (s. z. B. T 708/00, ABl. 2004, 160; T 274/03; T 141/04), die der R. 137 (4) EPÜ zum Zeitpunkt der Entscheidung der Prüfungsabteilung entspricht und deren Wortlaut mit Wirkung ab 1. April 2010 in R. 137 (5) EPÜ übertragen wurde. Die Kammer wies darauf hin, dass die Richtlinien dem Rechnung tragen; im Zusammenhang mit der Prüfung geänderter Ansprüche nennen sie ausdrücklich die Möglichkeit der Durchführung einer zusätzlichen Recherche.
In T 2029/13 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die geänderten Ansprüche 1 bis 13 nicht uneinheitlich waren und die Recherchenabteilung daher für den ergänzenden europäischen Recherchenberichts auch die Ansprüche 7 bis 13 (zweite Gruppe von Erfindungen) hätte recherchieren müssen und die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung keinen Einwand nach R. 137 (5) EPÜ (in der ab 1. April 2010 geltenden Fassung) gegen den zweiten und dritten Hilfsantrag mit der Begründung hätte erheben dürfen, dass Anspruch 1 dieser Anträge nicht recherchierte Merkmale enthalte. Da die Ansprüche des aktuellen Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags Merkmale enthielten, die sich auf die Ansprüche 7 bis 13 bezogen, die für den ergänzenden europäischen Recherchenbericht hätten recherchiert werden müssen, aber nicht recherchiert wurden, hielt es die Kammer für angemessen, die Sache nach Art. 111 (1) EPÜ mit der Maßgabe an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, eine zusätzliche Recherche zur Merkmalskombination der Ansprüche 7 bis 13 durchzuführen und die Sachprüfung auf dieser Grundlage fortzusetzen.
In T 1520/14 erklärte die Kammer, dass die Recherchenabteilung nicht verpflichtet ist, ihre Recherche auf ein Merkmal aus der Beschreibung auszudehnen, wenn es keinen objektiven Grund für die Annahme gibt, dass genau dieses Merkmal Gegenstand späterer Änderungen sein wird. Wenn aber in der Beschreibung mehrfach die Nützlichkeit der Erfindung für einen bestimmten Zweck oder auf einem bestimmten technischen Gebiet betont wird, ist eindeutig absehbar, dass die Erfindung letztlich auch für diesen Zweck oder dieses Gebiet beansprucht werden könnte. Dementsprechend fand die Kammer den Standpunkt der Recherchenabteilung unangemessen, wonach Anspruch 1 vollständig recherchiert war, die Recherche sich aber nicht auf das erstreckte, was in der Beschreibung mehrfach als Hauptanwendungsgebiet der Erfindung genannt war, und sah darin einen Verstoß gegen Art. 92 EPÜ. Ebenso unangemessen fand sie, dass die Prüfungsabteilung diesen Standpunkt für richtig befunden hatte.