7.3.5 Rechtsprechung zu mündlichen Verhandlungen während der COVID-19-Pandemie und vor G 1/21
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Der Fall T 2320/16 (der vor T 1807/15 date: 2021-03-12 entschieden wurde) war der erste, in dem eine mündliche Verhandlung vor den Beschwerdekammern ohne das Einverständnis eines der Beteiligten als Videokonferenz stattfand. Die Kammer verwies in diesem Zusammenhang auf die Mitteilung vom 15. Dezember 2020, die auf der Website der Beschwerdekammern veröffentlicht wurde und die Öffentlichkeit davon unterrichtete, dass die Kammern ab dem 1. Januar 2021 auch ohne Einverständnis der Beteiligten mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchführen können. Die Kammer erklärte, dass Art. 116 EPÜ keine bestimmte Form für die mündliche Verhandlung vorgibt, außer dass sie mündlich stattfindet. Insbesondere schließt er mündliche Verhandlungen per Videokonferenz nicht explizit aus. Nach Ansicht der Kammer ist Voraussetzung für eine mündliche Verhandlung, dass die Beteiligten die Mitglieder der Kammer sehen können und umgekehrt. Zugleich muss es der Kammer in Echtzeit möglich sein, die Beteiligten, falls erforderlich, zu unterbrechen oder zu befragen.
In T 328/16 wies die Kammer einen nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Aussetzung des als Videokonferenz durchgeführten Termins zur mündlichen Verhandlung und auf Neufestsetzung eines Termins zur mündlichen Verhandlung mit physischer Präsenz aller Beteiligten zurück. Die Kammer teilte den Parteien mit, dass die Umwandlung der Verhandlung von der Präsenzverhandlung zur Videokonferenz zum einen dem Gesundheitsschutz aller Beteiligten angesichts der aktuellen Entwicklung der COVID-19-Pandemie und zum anderen den im Sitzstaat der Europäischen Patentorganisation sowie in ganz Europa geltenden Schutzmaßnahmen dient. Dem Antrag stattzugeben, hätte zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung geführt, zumal bereits eine ursprünglich für den 8. Mai 2020 angesetzte mündliche Verhandlung pandemiebedingt verlegt werden musste. Es liegt im Ermessen der Beschwerdekammer, eine mündliche Verhandlung gemäß Art. 116 EPÜ auf Antrag eines Beteiligten oder, wie hier, von Amts wegen als Videokonferenz durchzuführen, wenn sie dies für zweckmäßig erachtet. Der neue Art. 15a VOBK 2020 kodifiziert die seit Mai 2020 bestehende Praxis der Beschwerdekammern, mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchzuführen.
In T 2030/18 entschied die Kammer, dass es – auch wenn der Beschwerdeführer für eine mündliche Präsenzverhandlung plädierte – gerechtfertigt war, die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen, da die COVID-19-Pandemie noch anhielt, die mündliche Verhandlung in dieser Sache bereits um ein Jahr verlegt worden war und eine weitere Verlegung auch aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht angezeigt war. In der schriftlichen Begründung der Entscheidung vom 29. Oktober 2021 befand die Kammer ferner, dass der Beschluss, die mündliche Verhandlung am 27. Mai 2021 als Videokonferenz durchzuführen, mit Art. 15a (1) VOBK 2020 sowie der zwischenzeitlich veröffentlichten Entscheidungsformel und Begründung der Großen Beschwerdekammer in G 1/21 date: 2021-07-16 in Einklang stand.
In T 245/18 rügte der Beschwerdeführer (Einsprechende), dass die Kammer entschieden hatte, die mündliche Verhandlung trotz fehlender Zustimmung einer der beiden Parteien wie geplant als Videokonferenz durchzuführen, ohne das Verfahren bis zur Verkündung einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/21 date: 2021-07-16 auszusetzen. Die Kammer stellte fest, dass sie durch den Verzicht auf die sofortige Verkündung einer Entscheidung und die Festsetzung eines Termins nach Art. 15 (9) VOBK 2020 sichergestellt hat, dass sie sich mit ihrer Einschätzung, die mündliche Verhandlung habe vorliegend als Videokonferenz durchgeführt werden dürfen, nicht in Widerspruch mit der seinerzeit noch ausstehenden Entscheidung der Großen Beschwerdekammer setzt. Wäre diese nun vorliegende Entscheidung anders ausgefallen, hätte die Kammer statt des Erlasses einer Endentscheidung erneut in die mündliche Verhandlung eintreten und hierzu einen neuen Termin bestimmen können. Die in der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 ausgesprochene Konkretisierung, dass gegen den Willen einer Partei eine mündliche Verhandlung jedenfalls dann per Videokonferenz stattfinden kann, wenn eine Ausnahmesituation gegeben ist, war nach Ansicht der Kammer vorliegend einschlägig, da eine derartige Ausnahmesituation aufgrund der seit März 2020 andauernden und im Mai 2021 noch mit erheblichen Reiseeinschränkungen einhergehenden und bei weitem nicht beendeten Covid19-Pandemie auch im hiesigen Streitfall ohne Zweifel vorlag. Ein erneuter Eintritt in die mündliche Verhandlung war nicht erforderlich.
In T 1870/16 beschloss die Kammer, die mündliche Verhandlung im sog. "Hybridmodus" durchzuführen. Der Beschwerdegegner nahm persönlich an der mündlichen Verhandlung teil, der Beschwerdeführer per Videoverbindung. Der Beschwerdegegner machte geltend, dass es angesichts der vor der Großen Beschwerdekammer anhängigen Sache G 1/21 date: 2021-07-16 "normal" und "verhältnismäßig" wäre, den Ausgang dieses Falles abzuwarten. Die Kammer befand, dass es in ihrem Ermessen lag, ein Verfahren auszusetzen, bis die Große Beschwerdekammer in einer anderen Sache eine Entscheidung getroffen hat. Die Kammer konnte nicht erkennen, dass eine mündliche Verhandlung im Hybridformat die Möglichkeit des Beschwerdegegners in irgendeiner Weise beeinträchtigen würde, seinen Fall mündlich darzulegen und die Ausführungen des Einsprechenden zu hören und darauf zu reagieren, zumal der Beschwerdegegner in Anwesenheit der Kammer auf "herkömmliche" Weise teilnahm. Da der Anspruch des Beschwerdegegners auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung in physischer Anwesenheit der Kammer in vollem Umfang gewahrt war (Art. 113 (1) EPÜ), hatte das Bedürfnis der Kammer, während der anhaltenden COVID-19-Pandemie Anhörungen durchzuführen und Fälle zu entscheiden, Vorrang gehabt gegenüber dem theoretischen Risiko, dass die Große Beschwerdekammer möglicherweise später die Nutzung von Hybridverhandlungen für "unrechtmäßig" befinden könnte.