4.3. Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach ständiger Rechtsprechung sollten dem Beschwerdeverfahren in der Regel die Tatsachen, Beweismittel und Anträge zugrunde liegen, die zu der angefochtenen Entscheidung führten (siehe z. B. J 12/18 unter Verweis auf Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019, V.A.4.11.1). Dieser Grundsatz findet seine Entsprechung in Art. 12 (2) VOBK 2020, wo festgelegt ist, dass im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten ist, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen.
Art. 12 (4) VOBK 2020 implementiert die erste Stufe des Konvergenzansatzes (siehe CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 12 (4) VOBK 2020, Zusatzpublikation 2, ABl. 2020). Nach Art. 12 (4) Satz 1 VOBK 2020 werden Teile des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten, die die Erfordernisse von Art. 12 (2) VOBK 2020 nicht erfüllen, im Allgemeinen als Änderung betrachtet. Es handelt sich jedoch nicht um eine "Änderung", sofern der Beteiligte zeigt, dass die Teile, die die Erfordernisse nicht erfüllen, im Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurden. Entscheidungen zur Frage, was nach Art. 12 (4) VOBK 2020 als Änderung zu betrachten ist, sind in Kapitel V.A.4.2.1 zu finden. Es steht im Ermessen der Kammer, Änderungen zuzulassen (Art. 12 (4) Satz 2 VOBK 2020).
In T 1776/18 verwies die Kammer auf Art. 114 (2) EPÜ und erklärte, dass jedes Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgetragen wurde, im Beschwerdeverfahren als verspätet vorgebracht im Sinne dieses Artikels gilt. Ob ein Beteiligter auf einen Antrag oder ein Schriftstück, der bzw. das in einem späten Stadium des erstinstanzlichen Verfahrens eingereicht worden ist, möglicherweise nicht angemessen reagieren konnte, entscheidet nicht darüber, ob ein Vorbringen verspätet ist, sondern ist vielmehr für die Frage relevant, wie die Kammer ihr Ermessen ausüben sollte (s. auch CA/3/19, S. 35 f., Erläuterungen zu Art. 12 (4) VOBK 2020).
Das Erfordernis, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten müssen, ist in Art. 12 (3) VOBK 2020 festgelegt (mit im Wesentlichen demselben Wortlaut wie Art. 12 (2) VOBK 2007, wie in T 1533/15 angeführt). Nach Art. 12 (5) VOBK 2020 steht es im Ermessen der Kammer, das Vorbringen eines Beteiligten nicht zuzulassen, soweit es die Erfordernisse nach Art. 12 (3) VOBK 2020) nicht erfüllt (siehe Kapitel V.A.4.3.5 c) "Ermessen nach Art. 12 (5) VOBK 2020").
Dieses Substantiierungserfordernis gilt auch für Vorbringen (z. B. Anträge, siehe T 534/21), das der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt. Um aber die Rechtsprechung zu Art. 12 (3) und (5) VOBK 2020 im Kontext der anderen Bestimmungen in Art. 12 und 13 VOBK 2020 darstellen zu können, werden Entscheidungen zu diesem Erfordernis im Kapitel V.A.4 aufgeführt, auch dann wenn es sich nicht um "neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren" handelt.
Art. 12 (6) Satz 1 VOBK 2020 betrifft die Zulassung von Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen wurde (siehe Kapitel V.A.4.3.6). Auch diese Vorschrift betrifft nicht nur neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren, soll aber dennoch im Kapitel V.A.4 im Gesamtzusammenhang der Vorschriften des Art. 12 und 13 VOBK 2020 dargestellt werden.
Art. 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 betrifft Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorgebracht werden können und müssen oder das während dieses Verfahrens nicht mehr aufrechterhalten wurde, weshalb in erster Instanz nicht darüber entschieden werden konnte (s. unten Kapitel V.A.4.3.7). Nach den Erläuterungen in CA/3/19 zu Art. 12 (6) VOBK 2020 wird in Satz 1 und 2 die ständige Rechtsprechung zu Art. 12 (4) VOBK 2007 aufgenommen (zu dieser Rechtsprechung siehe auch Kapitel V.A.5.11 "Artikel 12 (4) VOBK 2007").
Art. 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 verbalisiert und kodifiziert (wie schon zuvor Art. 12 (4) VOBK 2007) den Grundsatz, dass jeder Beteiligte alle Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge, die relevant erscheinen, so früh wie möglich vorlegen sollte, um ein faires, zügiges und effizientes Verfahren sicherzustellen. Es steht einem Beschwerdeführer nicht frei, seine Sache in das Beschwerdeverfahren zu verlagern und so die Kammer entweder zu einer Erstentscheidung über die kritischen Fragen oder zur Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zu zwingen. Einem Beschwerdeführer diese Freiheit einzuräumen, liefe einem ordnungsgemäßen und effizienten Einspruchs-Beschwerdeverfahren zuwider. Dies hätte nämlich eine Art "Forum-Shopping" zur Folge, das die korrekte Aufgabenverteilung zwischen erster Instanz und Beschwerdekammern gefährden würde und mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie absolut unvereinbar wäre. Siehe T 101/17 mit Bezugnahme auf T 162/09 und T 1848/12 sowie T 878/21.
Die Erfordernisse der ersten Stufe des Konvergenzansatzes – d. h. diejenigen die in Art. 12 (4) bis (6) VOBK 2020 festgelegt sind – gelten während des gesamten Beschwerdeverfahrens, also auch in den Phasen des Beschwerdeverfahrens, die durch Art. 13 (1) und (2) VOBK 2020 geregelt werden (s. Kapitel V.A.4.1.2).