2.6.1 Einführung eines neuen Anspruchs, eines relevanten Dokuments oder eines neuen Arguments
Im Verfahren T 951/97 (ABl. 1998, 440) war die Entgegenhaltung D4 zwar bereits im europäischen Recherchenbericht erwähnt, aber vor der mündlichen Verhandlung im Prüfungsverfahren nicht aufgegriffen worden. Die Kammer stellte fest, dass die halbstündige Unterbrechung der mündlichen Verhandlung zu kurz für eine richtige Auswertung des komplexen Textes von D4. Da D4 ausschlaggebend für die Feststellung der Prüfungsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit gewesen war, stützte sich die Entscheidung auf Beweismittel, zu denen sich der Anmelder entgegen Art. 113 (1) EPÜ nicht hinreichend äußern konnte (s. auch T 492/03).
In T 783/89 schlug die Einspruchsabteilung am Anfang der mündlichen Verhandlung eine neue Fassung des Hauptanspruchs vor. Die Einsprechenden bekamen zehn Minuten Zeit, um sich mit der geänderten Fassung des Anspruchs zu befassen. Nach Ansicht der Beschwerdekammer wurden die Einsprechenden mit dieser Vorgehensweise überrascht. Außerdem sei diese begrenzte Zeitspanne nicht ausreichend gewesen, um die Zulässigkeit der Änderungen zu überprüfen.
In T 2235/12 hatte die Prüfungsabteilung zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung zwei zusätzliche Dokumente und einen neuen Einwand in das Verfahren eingeführt. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Verlegung der mündlichen Verhandlung wurde abgelehnt, und der Beschwerdeführer nahm nicht an der mündlichen Verhandlung teil. Die Kammer befand, dass der neue Einwand keinen Bezug zu den in der Ladung genannten Punkten hatte und der Beschwerdeführer die Gelegenheit hätte erhalten müssen, auf den neuen Einwand zu reagieren. Die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hätte nichts an der Tatsache geändert, dass der Zeitrahmen zu knapp war, um Instruktionen einzuholen und sich auf die mündliche Verhandlung mit neuem Schwerpunkt vorzubereiten. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass mit der Ablehnung der vom Beschwerdeführer beantragten Verlegung der mündlichen Verhandlung sein rechtliches Gehör verletzt wurde.
In T 75/10 sah die Kammer keinen Grund, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben, mit der verspätet eingereichte, für die Neuheitsfrage hoch relevant erscheinende Unterlagen zugelassen worden waren. Diese Dokumente wurden aus einem anderen Archiv generiert als den normalerweise für die Neuheitsrecherche verwendeten Datenbanken. Die Einspruchsabteilung hätte, nachdem sie sich für die Zulassung der Unterlagen entschieden hatte, dem Antrag des Patentinhabers auf Verlegung der mündlichen Verhandlung stattgeben müssen. Die Kammer sah einen wesentlichen Unterschied zwischen einer Prima-facie-Beurteilung der möglichen Relevanz sowie des Veröffentlichungsdatums eines verspätet eingereichten Dokuments zum Zwecke einer Entscheidung über dessen Zulassung zum Verfahren und der vollständigen, gründlichen Prüfung der Neuheit gegenüber einem solchen Dokument, bei der festgestellt werden muss, ob das Dokument der Öffentlichkeit vor dem wirksamen Anmeldetag zur Verfügung stand.
In T 763/15 konnte die Kammer keinen Hinweis darauf finden, dass dem Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung die Gelegenheit gegeben worden wäre, sich zur Frage der Zulässigkeit des zweiten Hilfsantrags zu äußern. Unmittelbar nachdem der Vorsitzende im Einspruchsverfahren eine Bemerkung zu der in Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags vorgenommenen Änderung abgegeben hatte, hatte er verkündet, dass "AUX 2 nicht in das Verfahren zugelassen wird". Eine von der Einspruchsabteilung gefasste und verkündete Entscheidung kann im selben Verfahren nicht mehr angefochten werden. Daher war es nach Auffassung der Kammer irrelevant, dass "der Patentinhaber auf die Entscheidung, AUX 2 nicht zuzulassen, nicht reagiert hat", wie es in der Niederschrift hieß.
In T 1238/14 hatte der Beschwerdeführer, in Antwort auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung, die Hilfsanträge 1 und 2 eingereicht. Ohne mündliche Verhandlung, wies die Prüfungsabteilung auch die Ansprüche der Hilfsanträge 1 und 2 als nicht patentierbar zurück. Die in den Ansprüchen der Hilfsanträge 1 und 2 vorliegenden Mängel wurden dem Beschwerdeführer jedoch nicht vorab zur Stellungnahme mitgeteilt, sondern ausschließlich und erstmals in der Entscheidung zur Zurückweisung der Anmeldung in Bezug auf den Hauptantrag, sowie auf die beiden Hilfsanträge. Wenn einen Anmelder zu einer mündlichen Verhandlung geladen wird, erklärte die Kammer, solle er davon ausgehen können, dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, bei der ihm Gelegenheit gegeben wird, auf Einwände der Prüfungsabteilung zu antworten.
In T 482/16 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Prüfungsabteilung dem Beschwerdeführer, als sie dessen Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung zurückwies, keine angemessene Gelegenheit gegeben hatte, sich zu Dokumenten zu äußern, die die Prüfungsabteilung erstmals in der mündlichen eingeführt Verhandlung hatte.
- T 1558/21
Catchword:
1. Entspricht der Antrag, der der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde liegt, zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht dem Willen einer Partei, so ist diese Partei beschwert und ihre Beschwerde gegen die Entscheidung zulässig (Punkt 1.1 der Entscheidungsgründe). 2. Die Kammer sieht es als erwiesen an, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht auf der beabsichtigten Fassung des Hilfsantrags beruht, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde. Im vorliegenden Fall hat die Einspruchsabteilung entweder über den falschen Antrag entschieden, der nicht dem Tenor der Entscheidung entspricht, oder aber über einen Antrag, zu dem die Parteien nicht gehört wurden. Beides stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, und daher ist die Entscheidung aufzuheben (Punkte 3.4 - 3.6 der Entscheidungsgründe). 3. Ein Fehler in einem während der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatz, der Teil einer in der mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung geworden ist, ist weder einer späteren Korrektur über Regel 140 EPÜ zugänglich, noch über Regel 139 EPÜ, sofern es ihm an der Offensichtlichkeit mangelt (Punkte 5.1 - 5.5 der Entscheidungsgründe).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”