5.13. Kriterien für die Berücksichtigung spät eingereichter Tatsachen und Beweismittel
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist u. a. als Kriterium der Frage nachzugehen, ob ein verspätet eingereichtes Dokument prima facie hoch relevant ist und ob eine stichhaltige Begründung für das verspätete Einreichen vorliegt, um so taktischen Missbräuchen vorzubeugen. Derartige Unterlagen sollten prima facie insofern hoch relevant sein, als sie mit gutem Grund eine Änderung des Verfahrensausgangs erwarten lassen, also höchstwahrscheinlich der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen (s. T 1002/92, ABl. 1995, 605; T 212/91, T 931/06, T 501/09, T 1306/09, T 2542/10, T 54/16 und T 1680/15). Zum Erfordernis der Prima-facie-Relevanz, s auch Kapitel IV.C.4.5.3.
In T 1002/92 erläuterte die Beschwerdekammer, dass im Verfahren vor den Beschwerdekammern für die Zulassung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel restriktivere und strengere Kriterien gelten als im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren. Im Gegensatz zum erstinstanzlichen Verfahren ist das Beschwerdeverfahren ein verwaltungsgerichtliches Verfahren und daher "weniger auf Ermittlungen ausgerichtet". Daher sollten im Verfahren vor den Beschwerdekammern neue Tatsachen, Beweismittel und diesbezügliche Argumente, die über die gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 in der Einspruchsschrift zur Stützung der geltend gemachten Einspruchsgründe angegebenen "Tatsachen und Beweismittel" hinausgehen, in pflichtgemäßer Ausübung des Ermessens der Kammer nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen und nur dann zum Verfahren zugelassen werden, wenn die neuen Unterlagen prima facie insofern hoch relevant sind.
In R 6/17 verwies die Große Beschwerdekammer darauf, dass die Prima-facie-Relevanz eines Dokuments weder in Art. 13 (1) VOBK 2007 noch in Art. 13 (3) VOBK 2007genannt ist. Allerdings ist die Aufzählung der Kriterien in Art. 13 (1) VOBK 2007 nicht erschöpfend, und das Kriterium der Prima-facie-Relevanz wurde von einigen Kammern als eines von mehreren Kriterien herangezogen. Die Prima-facie-Relevanz ist gewiss weder das maßgeblichste Kriterium noch ein alleinstehendes, d. h. ein nicht mit anderen in Beziehung stehendes Kriterium. Der Gedanke der Verfahrensökonomie kommt auch in dem gängigen Ansatz zum Ausdruck, verspätete Dokumente, die prima facie nicht relevanter sind als der vorhandene Inhalt der Akte, nicht zuzulassen.
In T 2054/11 befand die Kammer, dass es im Beschwerdeverfahren nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und insbesondere unmittelbar vor bzw. während der Verhandlung auf die Relevanz bei der Frage der Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von späten Änderungen des Vorbringens einer Partei de facto nicht mehr ankommt (vgl. Art. 13 (3) VOBK 2007). S. auch T 552/18.
In T 662/14 befand die Kammer, dass die behauptete hohe Relevanz eines Dokuments ein Faktor ist, der nur unter besonderen Umständen die Zulassung neuer Beweismittel und damit zusammenhängender Argumente zum Beschwerdeverfahren rechtfertigt.
In T 2576/12 wies die Kammer darauf hin, dass die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 die Zulassung einer erst mit der Beschwerdebegründung eingereichten Entgegenhaltung davon abhängig machen kann, ob sie prima facie (hoch) relevant ist. Sie muss dies jedoch nicht tun, denn andernfalls könnte ein Einsprechender eine (hoch) relevante Entgegenhaltung immer ohne Weiteres erst mit der Beschwerdebegründung einreichen (s. dazu auch T 724/08).
In T 367/15 führte die Kammer aus, dass das Nichtzulassen einer höchst relevanten Druckschrift, welche die Gültigkeit des Streitpatents beeinträchtigen könnte, zu der unbefriedigenden Situation führen kann, in der ein Patent aufrechterhalten wird, das bei Berücksichtigung der Druckschrift widerrufen worden wäre. Die Kammer muss daher zwei Forderungen des öffentlichen Interesses ausgleichen, nämlich die prozessuale Gerechtigkeit und die Verhinderung ungerechtfertigter Monopole.
Wegen ihrer hohen Relevanz ließ die Kammer in T 887/11 die (neuen) Beweismittel wie auch die Zeugenaussage, die zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, zum Verfahren zu.
Weitere Beispiele in denen (prima facie) hoch relevante Dokumente zum Verfahren zugelassen wurden, sind T 182/09, T 1404/10, T 605/11, T 1830/13, T 340/12, T 931/06, T 1105/04 (Dokument von beiden Parteien als nächstliegender Stand der Technik betrachtet).
In der Entscheidung T 609/99 stellte die Kammer fest, dass sie trotz des Einwands des Patentinhabers gegen die Zulassung von Beweismitteln, die im Einspruchsverfahren gemäß Art. 114 (2) EPÜ 1973 nicht berücksichtigt worden waren, diese Beweismittel unter gewissen Umständen berücksichtigen könne, ohne dass dies bedeuten würde, dass sie prima facie hoch relevant seien. Diese Ermessensausübung stehe durchaus im Einklang mit den in T 1002/92 (ABl. 1995, 605) dargelegten Kriterien. Unter den vorliegenden Umständen erweitere die Zulassung der Beweismittel durch die Kammer den rechtlichen und tatsächlichen Rahmen nicht.