1.1. Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens
In G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) hat die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass sich aus den Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens ergibt, dass ein Vertrag (hier das EPÜ) zuerst in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, was bedeutet, dass der Richter von klaren Rechtsbestimmungen nicht abweichen darf; dieser Grundsatz betrifft das Erfordernis des guten Glaubens. Aus Art. 32 des Wiener Übereinkommens geht ferner hervor, dass vorbereitende Dokumente primär heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die ersten, gewöhnlichen Auslegungsmittel zu einem mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnis führen würden (s. auch G 1/07 vom 15. Februar 2010, ABl. 2011, 134, Nr. 3.1 der Gründe; G 1/18, Punkt III. der Stellungnahme).
In G 2/12 und G 2/13 (ABl. 2016, A27 und ABl. 2016, A28) befand die Große Beschwerdekammer, dass diese objektive Auslegungsweise insgesamt darauf abzielt, die "authentische" Bedeutung der betreffenden Vorschrift und ihrer Rechtsbegriffe zu ermitteln. Ausgangspunkt der Auslegung ist somit unabhängig vom ursprünglichen "subjektiven" Willen der Vertragsparteien der Wortlaut, d. h. die "objektive" Bedeutung. Dabei müssen die Vorschriften in ihrem Zusammenhang gelesen werden, damit sie mit Ziel und Zweck des EPÜ übereinstimmen.
In T 1173/97 hat die Kammer den Ausdruck "Computerprogramme als solche" von verschiedenen Seiten auf seine Bedeutung geprüft und dabei besonders auf die Worte "als solche" abgehoben. Sie ist dabei zu dem Schluss gelangt, dass ein Computerprogrammprodukt nicht vom Patentschutz ausgeschlossen ist, wenn es das Potential zur Erzeugung eines "weiteren" technischen Effekts besitzt. Nach Ansicht der Kammer steht die Auslegung des in Art. 52 (2) c) und (3) EPÜ 1973 verankerten Patentierungsverbots für Computerprogramme als solche in vollem Einklang mit diesen Bestimmungen des Wiener Übereinkommens. Mit ihrer Auslegung ist die Kammer nach eigener Einschätzung nicht über die gewöhnliche Bedeutung der Bestimmungen des EPÜ hinausgegangen. Ihre Deutung legt dem in Art. 52 (3) EPÜ 1973 verwendeten Ausdruck "als solche" ihres Erachtens keine besondere Bedeutung im Sinne des Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens bei, die an die Zustimmung der EPÜ-Vertragsstaaten gebunden wäre. Diese Entscheidung findet hier Erwähnung wegen der Bezugnahme auf das Wiener Übereinkommen; zur aktuellen Sachlage bei der Patentierbarkeit von Computerprogrammen siehe Kapitel I.D.9.2.9.