4.4.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
In T 836/08 war Anspruch 1 auf ein Verfahren zum Ermitteln der Position des distalen Endes eines Knochenführungsdrahtes mit einem medizinischen optischen Tracking- und Navigationssystem gerichtet. Die Kammer führte aus, dass dies zwar erfordert, dass die Referenzvorrichtung am Knochen befestigt und der Draht in den Knochen eingeführt ist, diese Schritte jedoch nicht Teil des ausdrücklich beanspruchten Verfahrens sind. Die Tatsache, dass das Verfahren durchgeführt wird, nachdem ein chirurgischer Eingriff am Körper erfolgt ist oder sogar während er erfolgt, bedeutet nicht, dass das beanspruchte Positionsermittlungsverfahren als solches ein chirurgisches Behandlungsverfahren ist.
Anders entschied die Kammer in T 923/08: Setzt ein Verfahren, das zum Erfassen von Messwerten am menschlichen oder tierischen Körper vorgesehen ist, zwingend einen chirurgischen Schritt zur Befestigung eines für die Verfahrensdurchführung unverzichtbaren Messelements am menschlichen oder tierischen Körper voraus, so ist dieser Schritt als wesentliches Verfahrensmerkmal anzusehen, das von einem solchen Verfahren umfasst wird, selbst wenn im Anspruch kein Verfahrensmerkmal ausdrücklich auf diesen Schritt gerichtet ist. Ein solches Verfahren ist gemäß Art. 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen. Auch konnte solch ein chirurgischer Schritt nicht durch eine Formulierung, wonach das Messelement bereits vor Verfahrensbeginn am Körper angebracht war, oder durch einen Disclaimer ausgeklammert werden, da dies Art. 84 EPÜ 1973 (1973) verletze.
In T 2102/12 war ein medizinisches Robotersystem beansprucht. Der Beschwerdeführer wollte ein von einer Vorrichtung ausgeführtes Verfahren zur Ermittlung und Anzeige von Entfernungsinformationen schützen lassen, das gleichzeitig und parallel mit einem nicht beanspruchten chirurgischen Verfahren ausgeführt wurde. Nach Auffassung der Kammer waren diese beiden "Arten" von Verfahrensschritten untrennbar miteinander verbunden. Sie befand, dass das hier beanspruchte Verfahren mit ineinander greifenden nicht chirurgischen ("beanspruchten") und chirurgischen ("nicht beanspruchten") Schritte nicht mit dem Verfahren in T 836/08 vergleichbar ist.
Auch in T 1631/17 beinhaltete der Wortlaut des Anspruchs keinen expliziten Verfahrensschritt, der im Sinne von Art. 53 c) EPÜ als chirurgisch anzusehen gewesen wäre. Allerdings umfasste das beanspruchte Verfahren einen solchen Schritt. Der fragliche chirurgische Verfahrensschritt lag zeitlich und räumlich innerhalb des beanspruchten Verfahrens. Das beanspruchte Verfahren konnte nicht durchgeführt werden ohne eine unmittelbare Durchführung dieses Zwischenschrittes. Das war ausreichend, damit das Verfahren unter den Ausschlusstatbestand des Art. 53 c) EPÜ fiel (G 1/07, ABl. 2011, 134).
In T 699/12 stellte die Kammer fest, dass es in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern keinen einheitlichen Ansatz für die Auslegung von Verfahrensansprüchen gibt, bei denen kein konkreter therapeutischer/chirurgischer Schritt beansprucht wird, aus dem Kontext aber entnehmbar ist, dass im Zusammenhang mit dem beanspruchten Verfahren solch ein therapeutischer/chirurgischer Schritt vorkommt. Im vorliegenden Fall schloss das beanspruchte Verfahren die Bestrahlung eines Patienten ein, denn anders ließ sich die Dosisbelastung bei der Strahlenbehandlung des Patienten nicht quantifizieren. Bei sorgfältiger Lektüre des Wortlauts der Ansprüche fand sich jedoch keine Grundlage für die Identifizierung eines Schritts wie der "zwischenzeitlichen Strahlenbehandlung des Patienten zu therapeutischen Zwecken", der de facto nicht beansprucht war. Folglich konnte Anspruch 1 nicht so ausgelegt werden, dass er einen Schritt der Bestrahlung des Patienten einschloss.