3. Das Erteilungsstadium des Prüfungsverfahrens
Mit der neuen R. 71 EPÜ wird die bis 2002 geltende Praxis in Bezug auf Änderungen der von den Prüfungsabteilungen vorgeschlagenen, zur Erteilung vorgesehenen Fassung wiederhergestellt. Die am 1. April 2012 in Kraft getretene neue R. 71 (3) EPÜ (R. 51 (4) EPÜ 1973) hat folgenden Wortlaut: "Bevor die Prüfungsabteilung die Erteilung des europäischen Patents beschließt, teilt sie dem Anmelder die Fassung, in der sie das europäische Patent zu erteilen beabsichtigt, und die zugehörigen bibliografischen Daten mit. In dieser Mitteilung fordert die Prüfungsabteilung den Anmelder auf, innerhalb einer Frist von vier Monaten die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr zu entrichten sowie eine Übersetzung der Patentansprüche in den beiden Amtssprachen des Europäischen Patentamts einzureichen, die nicht die Verfahrenssprache sind."
Hat die Prüfungsabteilung beschlossen, dass ein Patent erteilt werden kann, so muss sie dem Anmelder die für die Erteilung vorgesehene Fassung mitteilen. Diese Fassung kann Änderungen und Berichtigungen enthalten, die die Prüfungsabteilung von sich aus angebracht hat und von denen sie mit Grund annehmen kann, dass ihnen der Anmelder zustimmt (Richtlinien C‑V, 1.1 – Stand März 2022).
In T 1849/12 hat der Beschwerdeführer beantragt, die Mitteilung der Prüfungsabteilung aufzuheben und die Prüfungsabteilung anzuweisen, die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ unverzüglich zu erlassen – auch und insbesondere vor Ablauf von 18 Monaten nach dem Prioritätsdatum – und das europäische Patent damit so schnell wie möglich zu erteilen. Die Kammer wies darauf hin, dass Art. 93 (2) EPÜ die Möglichkeit einer Patenterteilung vor Ablauf der 18 Monate regelt. Deshalb ist eine Patenterteilung vor Ablauf der genannten Frist nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt die Prüfungsabteilung ist bereits zu der Auffassung gelangt, dass die Anmeldung sämtliche Erfordernisse des EPÜ erfüllt. Da dies vorliegend jedoch noch nicht der Fall gewesen war, kam die in Art. 93 (2) EPÜ genannte Möglichkeit einer Patenterteilung vor Ablauf der Frist von 18 Monaten nicht in Betracht. Die Kammer sah dabei keinen Widerspruch zwischen den Bestimmungen der Art. 93 (2) und 97 (1) EPÜ. Das EPÜ sieht als Voraussetzung einer Patenterteilung eine zwingende Prüfung sämtlicher Erfordernisse des EPÜ vor. Erst wenn nach Auffassung der Prüfungsabteilung alle zu prüfenden Erfordernisse erfüllt sind, darf eine Patenterteilung veranlasst werden. Im Gegensatz zur Auffassung des Beschwerdeführers steht der Prüfungsabteilung insoweit kein Ermessensspielraum zu. Dabei ist zu beachten, dass das EPA die Interessen der Anmelder ebenso wie die der Öffentlichkeit wahren muss und dass sich die Öffentlichkeit darauf verlassen können muss, dass dies geschieht.
In T 1377/15 stellte die Kammer fest, dass eine Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ als Ganzes nicht den Charakter einer Entscheidung hat. Eine solche Mitteilung dient nicht dazu, das Prüfungsverfahren abzuschließen, sondern stellt eine vorbereitende Maßnahme (für einen etwaigen späteren Erteilungsbeschluss) dar, die nicht mit der Beschwerde anfechtbar ist. Die Kammer stellte fest, dass dem Beschwerdeführer durch den Wortlaut der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ – anders als durch die Mitteilung nach R. 51 EPÜ 1973 in T 1181/04 – ausdrücklich Gelegenheit gegeben worden war, sein Nichteinverständnis zu erklären und daraufhin eine beschwerdefähige Entscheidung zu erwirken, in der die Zurückweisung der höherrangigen Anträge begründet wird. Ausgehend davon befand die Kammer, dass die in T 1181/04 aufgestellten Grundsätze, wonach die Mitteilung nach R. 51 EPÜ 1973 ausnahmsweise als beschwerdefähige Entscheidung anerkannt werden kann, hier nicht zuträfen. Zudem war die betreffende Mitteilung in T 1181/04 auf R. 51 EPÜ 1973 (jetzt umnummeriert als R. 71 EPÜ 2000) in der damals geltenden Fassung gestützt worden, die seitdem geändert wurde.
Zum Prüfungsverfahren nach dem früheren System (R. 71 EPÜ und R. 51 (4) EPÜ 1973) s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019, IV.B.3.2.5.