2.1. Recht auf mündliche Verhandlung im Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahren
Overview
Das Recht auf mündliche Verhandlung stellt ein überaus wichtiges Verfahrensrecht dar, dessen Gewährung das EPA mit allen angemessenen Maßnahmen sicherstellen muss (T 668/89; T 808/94; T 556/95, ABl. 1997, 205; T 996/09; T 740/15). Wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung (s. dieses Kapitel III.C.4.) gestellt wurde, dann muss eine solche anberaumt werden. Diese Vorschrift ist zwingend und lässt keinen Ermessensspielraum zu (T 283/88, T 795/91, T 556/95, T 1048/00, T 740/15); d. h. die Parteien haben ein absolutes Recht auf eine mündliche Verhandlung (T 552/06, T 189/06, T 263/07, T 1426/07, T 653/08, T 1251/08, T 1829/10). Gegenüber diesem Recht können Erwägungen hinsichtlich zügiger Verfahrensführung, Billigkeit oder Verfahrensökonomie nicht durchgreifen (T 598/88, T 731/93, T 777/06). Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besteht, solange ein Verfahren vor dem EPA anhängig ist (T 556/95, T 114/09).
Wenn mehrere Beteiligte betroffen sind, wie dies bei einem Einspruchsverfahren der Fall ist, sieht das EPÜ nur mündliche Verhandlungen vor, zu denen alle Beteiligten geladen sind, damit der Grundsatz der Unparteilichkeit der Instanzen und der Rechtsgleichheit gewahrt wird (T 693/95).
Die Kammer in T 247/20 erklärte, dass die mündliche Verhandlung ein wichtiger Bestandteil des Verfahrens vor den Beschwerdekammern ist. Ihre Bedeutung wird durch das in Art. 116 EPÜ verankerte absolute Recht eines Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung unterstrichen. Diese dient zur Erörterung von Aspekten, die für die Entscheidung der Kammer maßgeblich sind. Die mündliche Verhandlung würde ihren Zweck verfehlen, wären die Beteiligten lediglich auf eine Wiederholung ihres schriftlichen Vorbringens beschränkt. Vielmehr ist den Beteiligten eine Präzisierung ihrer im schriftlichen Verfahren fristgerecht vorgelegten Argumente und Beweismittel und selbst eine Vertiefung ihrer Argumente zu gestatten, sofern diese im Rahmen des Vorbringens bleibt.
In T 1790/17 betonte die Kammer, dass der Zweck der mündlichen Verhandlung für den Beschwerdeführer darin besteht, sein Vorbringen zu vertiefen, und für die Kammer darin, diejenigen Punkte zu verstehen und zu klären, die bis dahin möglicherweise noch nicht ausreichend klar waren. Dies ist vor allem in Ex-parte-Verfahren von Bedeutung, in denen es außer dem Anmelder (Beschwerdeführer) keinen anderen Beteiligten gibt. Wenn im Ergebnis einer solchen Debatte keine Änderungen zulässig wären, wären mündliche Verhandlungen zwecklos.
In G 2/19 (ABl. 2020, A87) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass ein Dritter im Sinne von Art. 115 EPÜ, der gegen die Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents Beschwerde eingelegt hat, keinen Anspruch darauf hat, dass vor einer Beschwerdekammer des EPA mündlich über sein Begehren verhandelt wird, zur Beseitigung vermeintlich undeutlicher Patentansprüche (Art. 84 EPÜ) des europäischen Patents den erneuten Eintritt in das Prüfungsverfahren anzuordnen. Die Vielfalt im Anwendungsbereich von Art. 116 (1) Satz 1 EPÜ spricht dagegen, dieser Vorschrift gleichsam Absolutheits-charakter beizulegen. Die Norm ist vom Konventionsgeber ersichtlich als Grundsatzregelung für die typischen Fallgestaltungen gedacht, mit denen die Verfahrensorgane des EPA in ihrer täglichen Praxis konfrontiert sind. Ausnahmen vom Grundsatz sind aber nicht ausgeschlossen, wenn die Anwendung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls sinnwidrig wäre. Art. 116 (1) Satz 1 EPÜ ist vielmehr dahin einschränkend auszulegen, dass die bloße formale Position als faktischer Beteiligter am Beschwerdeverfahren nicht ausreicht, um die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verlangen zu können, wenn der Petent nicht zur Beschwerdeeinlegung befugt ist, weil er im Rechtssinne nicht am vorangegangenen Verfahren beteiligt war oder wenn er einen der Beschwerde nicht zugänglichen Gegenstand verfolgt (s. Vorlage in T 831/17 vom 25. Februar 2019 date: 2019-02-25).
- J 6/22
Catchword:
1. The requirement for immediate and complete substantiation of a request for re-establishment corresponds to the principle of "Eventualmaxime/Häufungsgrundsatz/le principe de la concentration des moyens", according to which the request must state all grounds for re-establishment and means of evidence without the possibility of submitting these at a later stage. 2. Dynamic interpretation of the EPC, as derived from Articles 31(1) and 31(3) Vienna Convention on the Law of Treaties, must take account of developments in national and international procedural law, notably as regards the guarantees of fair trial before a tribunal of law (Article 6(1) ECHR). 3. There is no "absolute" right to oral proceedings upon a party's request, but it is subject to inherent restrictions by the EPC, and due to procedural principles generally recognised in the Contracting States of the EPO. 4. If oral proceedings do not serve any legitimate purpose, the requirement of legal certainty in due time prevents the Board from appointing them. 5. It is not the purpose of oral proceedings in the context of proceedings for re-establishment to give the appellant a further chance to substantiate their factual assertions or to provide evidence despite the absence of factual assertions in the request for re-establishment.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”