4.4.5 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 – neue Anträge
In der Sache T 851/18 vom 10.01.2020 date: 2020-01-10 (in der gemäß Art. 25(1), (3) VOBK 2020 die Art. 13(1) VOBK 2020 und Art. 13 VOBK 2007 Anwendung fanden, nicht aber Art. 13(2) VOBK 2020) unterschied sich der während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichte Hilfsantrag von den Ansprüchen, mit denen das Patent von der Einspruchsabteilung aufrechterhalten worden war, in zwei Punkten: Zum einen kombinierte Anspruch 1 des Hilfsantrags den Gegenstand der Ansprüche 1 und 3 wie aufrechterhalten. Diese Änderung war bereits in dem in Erwiderung auf die Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 vorgelegten Hilfsantrag enthalten. Zum anderen wurde erstmals der Gegenstand des Anspruchs 3 wie aufrechterhalten auch in den zweiten unabhängigen Anspruch 7 aufgenommen. Die Kammer war der Auffassung, dass beide Änderungen wenig komplex waren, keine neuen Fragen aufwarfen und sachdienlich waren. Die Kammer sah daher trotz des späten Verfahrensstadiums keinen Grund, den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsantrag und die diesbezüglich vorgebrachten Argumente nicht in das Verfahren zuzulassen. Die Aufnahme der Merkmale von Anspruch 3 wie aufrechterhalten in Anspruch 1 entsprach in der Sache einer Streichung des breiteren Anspruchs 1 wie aufrechterhalten und trug sämtlichen Einwänden in verfahrensökonomischer Art und Weise Rechnung. Anspruch 3 wie aufrechterhalten war zudem im bisherigen Verfahren nicht angegriffen worden. Die zweite Änderung behob in offensichtlicher Weise einen von der Kammer in der Verhandlung geäußerten Einwand gegen die Neuheit des Anspruchs 7.
Im Ex-parte-Fall T 278/17 waren die Änderungen im (einzigen) Anspruch des Hauptantrags eine Reaktion auf Fragestellungen, die von der Kammer erstmals während eines Telefongesprächs bezüglich Hilfsantrag 2 aufgeworfen wurden. Hilfsantrag 2 wiederum war ein ernsthafter Versuch, alle – überwiegend erstmals – in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 aufgeworfenen Fragestellungen zu behandeln. Da die Änderungen auf alle im Telefongespräch und der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 erhobenen Einwände gerichtet waren und diese klar ausräumten, ließ die Kammer den neuen Hauptantrag unter Berücksichtigung von Art. 13 (1) VOBK 2020 und Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 zu.
In T 131/18 prüfte die Kammer zunächst hypothetisch die Zulassung des in Reaktion auf die Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrags 3, da der infrage stehende neue Hilfsantrag 6 von zwei Änderungen abgesehen wörtlich und inhaltlich identisch mit diesem war. Die Kammer hielt Hilfsantrag 3 aus folgenden Gründen für zulässig: Mit seinem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag hatte sich der Beschwerdeführer (Patentinhaber) zunächst bemüht, den in der angefochtenen Entscheidung aufgezeigten Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ zu beheben. Wie vom Beschwerdeführer dargelegt, reagierte er mit weiteren geringfügigen Änderungen in Hilfsantrag 3 lediglich auf in der Beschwerdeerwiderung gegen diesen Hauptantrag unter Art. 123 (2) EPÜ, Art. 83 und 84 EPÜ erhobene zusätzliche Einwände. Der Hilfsantrag 3 wurde auch nicht so spät eingereicht, dass der Beschwerdegegner (Einsprechende) nicht mehr darauf hätte reagieren können. Die Kammer gelangte zur Auffassung, dass durch die Änderungen die bekannten Probleme überwunden worden seien. Neue, durch die Änderungen hervorgerufene Probleme stellte sie nicht fest. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass sie Hilfsantrag 3 in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK 2020 zum Verfahren zugelassen hätte. Auch die gegenüber Hilfsantrag 3 zur Beseitigung von Widersprüchen vorgenommenen redaktionellen Anpassungen im Hilfsantrag 6 wurden nach Art. 13 (2) VOBK 2020 zugelassen (s. unten Kapitel V.A.4.5.5 h)).
Für weitere Inter-partes-Fälle, bei denen die Kammern neue Anträge zuließen, die zeitnah eingereicht wurden und prima facie zulässig waren, siehe z. B. T 32/16 (s. Zusammenfassung in Kapitel V.A.4.4.5 c)), T 2101/16 (gerechtfertigte Reaktion auf Klarstellung von in Beschwerdebegründung erhobenem Einwand nach Art. 83 EPÜ), T 102/16 (erstmals in der vorläufigen Einschätzung der Kammer erhobene Einwände gegen die erfinderische Tätigkeit, im Wesentlichen eine Kombination von zwei Ansprüchen des erteilten Patents, keine Verlegung notwendig), T 731/16 (zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung eingereichter neuer Antrag, einziger Unterschied zur aufrechterhaltenen Anspruchsfassung "bzw." statt "oder"; gerechtfertigte Reaktion auf Neuauslegung in Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007).
Ein weiterer Ex-parte-Fall ist T 2129/16 (Antrag räumte den erstmals in der vorläufigen Einschätzung der Kammer erhobenen Klarheitseinwand klar aus).
Zum Erfordernis, dass der Beteiligte Gründe angeben muss, weshalb die Änderung seines Vorbringens erst in der betreffenden Phase des Verfahrens eingereicht wurde (Art. 13(1) Satz 3 VOBK 2020), siehe auch Kapitel V.A.4.4.4 b).