3.1. Regel 14 (1) EPÜ
Nach T 146/82 date: 1985-05-29 (ABl. 1985, 267) muss die Aussetzung angeordnet werden, wenn ein Dritter dem EPA nachweist, dass er bei einem nationalen Gericht ein rechtserhebliches Verfahren eingeleitet hat, sofern die europäische Patentanmeldung nicht zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt.
In J 6/03 stellte die Juristische Kammer fest, dass sich R. 13 (1) EPÜ 1973 auf Verfahren bezieht, die unmittelbar, d. h. generell und automatisch, in die in Art. 61 (1) EPÜ 1973 genannten Entscheidungen münden. Die Bestimmung war daher nicht auf Entscheidungen der Gerichte von Drittstaaten (im vorliegenden Fall Kanada) anwendbar.
In J 14/19 stellte die Juristische Kammer fest, dass R. 14 (1) EPÜ (R. 13 (1) EPÜ 1973) nicht bestimmt, zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren als eingeleitet gilt. Die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit war daher nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Art. 61 (1) EPÜ angerufen wurden (s. auch J 2/14, T 1138/11). Art. 8 des Anerkennungsprotokolls von 1973 stützte dieses Auslegungsergebnis. Nach dieser Bestimmung hat sich ein wegen desselben Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents zwischen denselben Parteien später angerufenes Gericht zugunsten des zuvor angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Welches Gericht zuvor angerufen wurde, muss nach dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit entschieden werden.
In J 36/97 stellte die Juristische Kammer unter Bezugnahme auf Art. 9 (2) des Anerkennungsprotokolls vom 5. Oktober 1973 fest, dass weder die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, dessen Entscheidung anerkannt werden soll, noch die Gesetzmäßigkeit dieser Entscheidung von den Beschwerdekammern nachgeprüft werden darf (s. auch J 8/96, J 10/02, J 14/19). Auch die Frage, wann und womit in einem Vertragsstaat ein rechtsrelevantes Zivilprozessverfahren in Gang gesetzt wird, richtet sich nach dem jeweiligen nationalen Recht (J 7/00).
In J 9/06 stellte die Juristische Kammer fest, dass gemäß G 3/92 (ABl. 1994, 607) allein die Gerichte der Vertragsstaaten zuständig sind, über Klagen auf Zuerkennung des Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents zu entscheiden (s. auch J 14/19). Das EPA hat weder die Möglichkeit noch die Aufgabe, bei der Entscheidung über einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gemäß R. 13 EPÜ 1973 zu prüfen, ob der Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung, für die die Aussetzung beantragt wird, der Offenbarung einer anderen Anmeldung entspricht, deren Inhaberschaft vor einem nationalen Gericht angefochten wird.
Laut J 15/13 darf eine Kammer nach ständiger Rechtsprechung einen nationalen Vindikationsfall zwar nicht inhaltlich und sachlich prüfen, die Prüfungsbefugnis der Kammer lässt sich aber nicht auf die bloße Feststellung beschränken, ob der Antrag im Rahmen der Vindikationsklage den Rechtsübergang der Anmeldung zum Gegenstand hat, sondern es ist – bis zu einem gewissen Grad – erlaubt und vielleicht sogar geboten, die Begründung der Vindikationsklage zu berücksichtigen. Die Kammer muss prüfen, ob das nationale Verfahren mit R. 14 (1) EPÜ in Einklang steht, denn ein Antrag auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens ist eine scharfe Waffe, die missbräuchlich eingesetzt werden kann.
In J 14/19 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass bei der Anwendung fremden Rechts das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden muss. Dabei ist das Europäische Patentamt nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte jedoch insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt und gewürdigt werden. Zur Frage eines möglichen Rechtsmissbrauchs bei Einleitung eines nationalen Verfahrens, stellte die Juristische Kammer fest, dass zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen sind. Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechts kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft.
In T 1473/13 wurden im Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Verfahrens mehrere Verfassungsbeschwerden angeführt, die vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängig waren und sich auf den Vorwurf eines unzureichenden Rechtsschutzes beim EPA gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern stützten. Unter Verweis auf eine der Verfassungsbeschwerden erläuterte die Kammer, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache nicht dargelegt habe, warum und wie sich eine Entscheidung zu bestimmten Vorschriften des EPÜ, seiner Ausführungsordnung, der VOBK und der VOGBK auf andere Kammerentscheidungen mit Wirkung in Deutschland auswirken könnte. Für die Kammer war nicht offensichtlich, dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Verfassungsbeschwerden direkte Rechtsfolgen über die betroffenen Fälle hinaus haben würden. Außerdem hat der Beschwerdeführer keine Angaben zu möglichen Nachteilen gemacht, die ihm aus einer Entscheidung der Kammer im vorliegenden Fall entstehen könnten, wenn die Verfassungsbeschwerden erfolgreich wären. Es gebe also keinen erwiesenen Nachteil für den Beschwerdeführer, und somit könnten die negativen Folgen einer Aussetzung bzw. Nichtaussetzung des Verfahrens (d. h. der Verzögerung des Verfahrens) nicht abgewogen werden. Folglich befand sie, dass der Antrag auf Aussetzung zurückzuweisen sei.