1. Allgemeine Grundsätze
Gemäß Art. 24 (1) EPÜ dürfen die Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer nicht an der Erledigung einer Sache mitwirken, an der sie ein persönliches Interesse haben, in der sie vorher als Vertreter eines Beteiligten tätig gewesen sind oder an deren abschließender Entscheidung in der Vorinstanz sie mitgewirkt haben. Glaubt ein Mitglied einer Beschwerdekammer oder der Großen Beschwerdekammer, an einem Verfahren nicht mitwirken zu können, so teilt es dies der Kammer mit (Art. 24 (2) EPÜ). Nach Art. 24 (3) EPÜ können die Mitglieder der Beschwerdekammern außerdem von jedem Beteiligten aus einem der in Art. 24 (1) EPÜ genannten Gründe oder wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die Entscheidung in den Fällen der Absätze 2 und 3 des Art. 24 EPÜ wird ohne Mitwirkung des betroffenen Mitglieds getroffen. Bei dieser Entscheidung wird das abgelehnte Mitglied durch seinen Vertreter ersetzt (Art. 24 (4) EPÜ).
Erhält eine Kammer von einem möglichen Ausschließungs- oder Ablehnungsgrund auf andere Weise als von dem Mitglied oder einem Beteiligten Kenntnis, wird nach Art. 3 (3) VOBK 2020 bzw. Art. 4 (3) VOGBK das Verfahren in der Sache nicht weitergeführt, bis über die Ausschließung oder Ablehnung entschieden ist. Aus Gründen der Klarheit und Konsistenz wurde in Art. 3 (3) VOBK 2020 die entsprechende Formulierung von Art. 3 (3) VOBK 2007 in "Ausschließung oder Ablehnung" geändert, während Art. 4 (3) VOGBK noch dieselbe Formulierung wie Art. 3 (3) VOBK 2007 enthält, in der das Wort "Ablehnung" fehlt. Bei der Entscheidung über die Ausschließung oder Ablehnung ist das Verfahren nach Art. 24 (4) EPÜ anzuwenden.
Zwar gibt es für Bedienstete der erstinstanzlichen Organe keine mit Art. 24 EPÜ vergleichbaren Vorschriften, doch gilt laut Rechtsprechung der Beschwerdekammern das Gebot der Unparteilichkeit auch für sie (s. G 5/91, ABl. 1992, 617; s. auch dieses Kapitel III.J.1.6).
In G 2/08 vom 15. Juni 2009 date: 2009-06-15 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass der Gesetzgeber bei "Ausschließung und Ablehnung" (Art. 24 EPÜ) einen Unterschied macht zwischen einer unwiderlegbaren Rechtsvermutung bei zwingenden Ausschlussgründen (Art. 24 (1) EPÜ; s. dieses Kapitel III.J.5.1), denen von Amts wegen nachzugehen ist und die daher von jedermann – den Beteiligten, der Kammer oder einem Dritten – geltend gemacht werden können, ohne dass ein persönliches Interesse dargelegt werden müsste, und den Ablehnungsgründen (Art. 24 (3) EPÜ; s. dieses Kapitel III.J.5.3), auf die sich ein Verfahrensbeteiligter berufen kann, der befürchtet, ein Mitglied der Beschwerdekammer oder der Großen Beschwerdekammer könnte befangen sein. Einem solchen Verfahrensbeteiligten wird ein persönliches und berechtigtes Interesse daran zugesprochen, in das Verfahren einzugreifen, und er darf dieses Interesse in einem ordentlichen Verfahren geltend machen. In diesem Fall liegt die Beweislast bei dem Beteiligten, der die Ablehnung beantragt, da Mitglieder einer Kammer einschließlich der Großen Beschwerdekammer zunächst als unvoreingenommen gelten (s. dieses Kapitel III.J.1.5). Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in Art. 112a (2) a) EPÜ wider, wonach ein Antrag auf Überprüfung unter anderem damit begründet werden kann, dass ein Mitglied der Beschwerdekammer unter Verstoß gegen Art. 24 (1) EPÜ oder trotz einer Ausschlussentscheidung nach Art. 24 (4) EPÜ an der Entscheidung mitgewirkt hat. Mit anderen Worten, während die in Art. 24 (1) EPÜ genannten Gründe als zwingend anzusehen sind, weil gegen den (Rechts-)Grundsatz verstoßen wurde, wonach niemand Richter in eigener Sache sein sollte, kann eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit eine Überprüfung nicht unmittelbar und von vornherein rechtfertigen (es sei denn, sie wird nachgewiesen und von der Kammer anerkannt; s. auch R 20/09; Art. 24 (3) EPÜ). S. auch G 3/08 vom 16. Oktober 2009 date: 2009-10-16.