5.11.3 Zweiseitiges Beschwerdeverfahren
Die entscheidende Frage in T 432/12 war, ob es im konkreten Einzelfall einen triftigen und plausiblen Grund dafür gab, die Dokumente erst im Beschwerdeverfahren einzureichen. Grundsätzlich können verspätet vorgebrachte Dokumente zugelassen werden, wenn es sich z. B. um eine normale Reaktion auf eine späte Entwicklung (in der mündlichen Verhandlung) im Einspruchsverfahren, um eine außergewöhnliche Interpretation durch die Einspruchsabteilung zu einem späten Verfahrenszeitpunkt bzw. in ihrer Entscheidung oder um eine offensichtliche Nichtgewährbarkeit angesichts neu angeführter Dokumente und/oder Einwände handelt (s. T 169/12). Im vorliegenden Fall lag jedoch keine dieser Ausnahmen vor. S. auch T 1953/16.
In T 724/08 hatte der Beschwerdeführer bereits mit seinem Einspruch den Einwand der mangelnden Neuheit erhoben und hätte deshalb die spät vorgebrachten Dokumente bereits im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens vorlegen können. Dabei war es unerheblich, ob der Beschwerdeführer diese japanischen Patentschriften bzw. die entsprechenden "Patent Abstracts of Japan" tatsächlich zufällig zu einem späteren Zeitpunkt erhalten hatte oder ob diese Dokumente tatsächlich nur schwer zu finden waren, denn dies kann nicht zulasten der Verfahrensökonomie und des Prinzips der Fairness gegenüber der anderen Partei gehen. Bei der Ausübung dieser Befugnis kann die Kammer die Zulassung einer Entgegenhaltung davon abhängig machen, ob diese prima facie relevant ist. Die Kammer muss dies jedoch nicht tun, denn andernfalls könnte ein Einsprechender eine (hoch) relevante Entgegenhaltung immer ohne Weiteres erst mit der Beschwerdebegründung einreichen. S. auch T 1314/12, T 2471/13, T 1826/18, T 2696/16.
In T 62/15 erklärte die Kammer, dass die Prima-facie-Relevanz in Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht genannt und somit nicht notwendigerweise ein Kriterium für die Zulassung von mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Tatsachen und Beweismitteln ist. Maßgeblich ist, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel bereits im Einspruchsverfahren hätte vorgelegt werden können und müssen (mit Verweis auf T 724/08, T 432/12 und T 1314/12).
Mit Verweis auf T 724/08 betonte die Kammer in T 2734/16, dass die Beteiligten dafür verantwortlich sind, alle zum relevanten Stand der Technik gehörende Dokumente aufzufinden und fristgerecht einzureichen. Dafür müssen gegebenenfalls hinreichende Maßnahmen und ggf. die dafür notwendigen finanziellen Mittel vorgesehen werden, um diese Obliegenheit zu erfüllen.
In T 876/05 wies die Kammer das Argument des Einsprechenden zurück, wonach die Einreichung neuer Dokumente wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung bei der ersten Instanz aussichtslos gewesen sei und er es deshalb vorgezogen habe, diese Dokumente erst in der Beschwerdephase vorzulegen. Art. 10a (4) VOBK 2003 (Art. 12 (4) VOBK 2007) stelle Dokumente, die vor der ersten Instanz hätten vorgelegt werden können, und vorgelegte, aber nicht zugelassene Dokumente einander gleich, so die Kammer. Die Einführung dieser Dokumente im Einspruchsverfahren hätte im schlimmsten Fall zur Feststellung ihrer Unzulässigkeit durch die Einspruchsabteilung geführt und hätte daher keine anderen Folgen gehabt als die, die sich aus ihrer Nichtvorlage ergaben. Die Kammer entschied, nur die auf Anhieb relevant erscheinenden Dokumente zu berücksichtigen (s. auch T 624/04).
In J 5/11 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass die Verpflichtung des Patentamts, Beweise von Amts wegen zu prüfen, bei allgemein zugänglichen Beweisen weiter reicht, und dass entsprechend mehr dafür spricht, derartige Beweise zuzulassen, wenn sie von den Beteiligten verspätet eingereicht werden. Hingegen ist die Verpflichtung des Amtes, Beweise, die sich in der Sphäre des Betreffenden befinden, von Amts wegen zu prüfen, naturgemäß beschränkt. Werden derartige Beweismittel nicht im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Organ des Amtes vorgelegt, lässt sich nur schwer ein zwingender Grund erkennen, weshalb die Beschwerdekammer sie in Ausübung ihres Ermessen nach Art. 114 (2) EPÜ und Art. 12 (4) VOBK 2007 zulassen sollte, wenn sie zusammen mit der Beschwerdebegründung oder gar erst in einem späteren Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht werden. Dies gilt umso mehr, wenn die erste Instanz den Beschwerdeführer ausdrücklich auf die Notwendigkeit entsprechender Beweise hingewiesen hat.
In T 2117/17 stellte die Kammer in Bezug auf die Pflicht zur sorgfältigen und förderlichen Verfahrensführung der Beteiligten im zweiseitigen Verfahren fest, dass besonders strenge Bedingungen an ein verspätetes Vorbringen einer offenkundigen Vorbenutzung geknüpft sind, insbesondere dann, wenn die Vorbenutzung durch die Verfahrensbeteiligten selbst erfolgt sein soll. Die betreffenden Unterlagen, die bereits im Einspruchsverfahren hätten eingereicht werden können, wurden u. a. aufgrund der fehlenden hohen Relevanz und aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht zugelassen (Art. 12 (4) VOBK 2007).
In den folgenden weiteren Entscheidungen befand die Kammer, dass Unterlagen oder Einwände bereits im Einspruchsverfahren hätten eingereicht werden können und übte ihr Ermessen nach Art. 12 (4) VOBK 2007 dahingehend aus, diese nicht zuzulassen: T 2193/14 (Unterlagen, die zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden waren, um erstmals substantiiert erteilte abhängige Ansprüche anzugreifen), T 1715/08 (zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichte Beweismittel), T 478/17 (in der Beschwerdebegründung vorgebrachter neuer Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ), T 1014/17 (mit der Beschwerdebegründung eingereichter ergänzender Stand der Technik in Reaktion auf den während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hauptantrag). Siehe aber auch die in Kapitel V.A.5.11.3 b) "Dokumente und Beweismittel zugelassen – angemessene und rechtzeitige Reaktion" dargestellten Entscheidungen T 1830/11, T 1554/16 und T 978/17.
- T 2179/16
Catchword:
Admittance of objections raised in appeal, said objections having been raised before the opposition division against a different claim request (point 4.3 of the Reasons
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”