6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Mehrere Entscheidungen, in denen der Grundsatz angewandt wurde, dass die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind, berufen sich auf Art. 69 (1) EPÜ 1973 (T 23/86, ABl. 1987, 316; T 16/87, ABl. 1992, 212; T 238/88, ABl. 1992, 709; T 476/89; T 544/89; T 565/89; T 952/90; T 717/98). In anderen Entscheidungen wird unterstrichen, dass Art. 69 EPÜ 1973 (bzw. Art. 69 EPÜ) und das zugehörige Protokoll in erster Linie zur Verwendung durch die für Patentverletzungsverfahren zuständigen Gerichte gedacht sind (s. z B. T 1208/97, T 1279/04, T 223/05, T 1047/11). In T 556/02 machte die Kammer deutlich, dass sie lediglich den im gesamten EPÜ geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz angewandt habe, wonach ein Dokument als Ganzes auszulegen ist (s. z. B. T 23/86; T 860/93, ABl. 1995, 47). Art. 69 EPÜ 1973 sei ein Sonderfall der Anwendung dieses allgemeinen Grundsatzes. S. auch T 1871/09, T 1817/14.
In T 1279/04 verwarf die Kammer die Auffassung des beschwerdeführenden Patentinhabers, dass Ansprüche für die Zwecke der Beurteilung der Neuheit im Einspruchsverfahren gemäß Art. 69 (1) EPÜ 1973 und seinem Auslegungsprotokoll auszulegen seien. Art. 69 (1) EPÜ 1973 und sein Protokoll bezögen sich auf den Schutzbereich des Patents bzw. der Patentanmeldung, der vor allem in Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Diese Bestimmungen dienten dazu, unter Umständen, unter denen der Anspruchswortlaut definitiv feststehe, für einen fairen Schutz zu sorgen – unter anderem durch Bezugnahme auf die Beschreibung und die Zeichnungen. Im Prüfungs- und Einspruchsverfahren habe hingegen die künftige Rechtssicherheit oberste Priorität. Hier bestehe die Funktion der Ansprüche darin, den Gegenstand zu definieren, für den Schutz begehrt werde (Art. 84 Satz 1 EPÜ 1973). Es komme nichts anderes in Betracht als eine Herangehensweise, bei der ein Anspruch als strikte Definition gelesen wird (zur Auslegung dieser Herangehensweise s. T 1534/12), da der Anspruch in diesem Verfahrensstadium geändert werden könne und solle, um einen dem Gebot der Rechtssicherheit entsprechenden Patentschutz und insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber jedem bekannten Stand der Technik zu gewährleisten. Jeglichen auftretenden Auslegungsschwierigkeiten sollte im Prüfungs- und Einspruchsverfahren mit Änderungen begegnet werden und nicht mit langwierigen Argumenten, wobei anerkannt sei, dass Änderungen an der erteilten Fassung eines Patents durch Einspruchsgründe veranlasst sein sollten. S. auch T 145/14.
Ebenso betonte die Kammer in T 1808/06 Folgendes: Wenn die Beschreibung im Hinblick auf das Erfordernis des Art. 84 EPÜ geändert werden müsse, könne Art. 69 (1) EPÜ nur dann – hilfsweise – zur Auslegung des beanspruchten Gegenstands herangezogen werden, wenn die Beseitigung von Unstimmigkeiten aus verfahrenstechnischen Gründen nicht möglich sei (z. B. Änderung der erteilten Fassung unzulässig).
In T 1646/12 hob die Kammer hervor, Art. 69 (1) EPÜ betreffe nur den Schutzbereich des Patents, welcher wiederum nur im Hinblick auf Art. 123 (3) EPÜ sowie in nationalen Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Ein allgemeines Gebot der Auslegung der Ansprüche unter Heranziehung der Beschreibung ließe sich aus Art. 69 (1) EPÜ nicht ableiten. Allerdings könne ein Begriff nach allgemeinen Grundsätzen nur im Kontext ausgelegt werden. Begriffe eines Anspruchs seien daher im Gesamtzusammenhang des Anspruchssatzes und der Beschreibung auszulegen (s. auch T 1817/14). Zwei Extreme sollten vermieden werden. Zum einen könnten einschränkende Merkmale, die zwar in der Beschreibung beschrieben sind, aber nicht in den Ansprüchen, nicht in letztere hineingelesen werden (s. dieses Kapitel II.A.6.3.4). Eine solche Übertragung von einschränkenden Merkmalen könne nicht durch Auslegung, sondern nur durch eine Änderung der Ansprüche erreicht werden. Zum anderen könne man den Anspruch auch nicht als von der Beschreibung völlig getrennt betrachten. Der Fachmann, der einen Anspruch auslegt, müsse sich zumindest vergewissern, ob die Ausdrücke des Anspruchs ihrem üblichen Wortsinn nach zu verstehen sind oder ob die Beschreibung für diese Ausdrücke eine besondere Bedeutung definiert. Auch bei unklaren Ansprüchen komme der Fachmann nicht umhin, in den restlichen Ansprüchen, aber auch in der Beschreibung und den Figuren nach klärenden Elementen zu suchen (s. dieses Kapitel II.A.6.3.3). Es sei also innerhalb gewisser Grenzen zulässig, und unter Umständen sogar notwendig, die Beschreibung bei der Auslegung der Ansprüche heranzuziehen; einer Berufung auf Art. 69 (1) EPÜ bedürfe es dazu nicht.
In T 1473/19 widersprach die Kammer der Feststellung in T 1279/04 und befand, dass Art. 69 EPÜ in Verbindung mit Art. 1 des zugehörigen Protokolls bei der Auslegung von Ansprüchen und der Bestimmung des beanspruchten Gegenstands in Verfahren vor dem EPA – einschließlich für die Zwecke der Überprüfung der Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ – herangezogen werden könne und solle. Nach Auffassung der Kammer unterscheidet sich die Auslegung der beanspruchten Merkmale zur Ermittlung des (ersten Teils des) Schutzumfangs eines Patentanspruchs nicht von der Auslegung und Bestimmung des beanspruchten Gegenstands für die Zwecke der Überprüfung der Erfordernisse der Art. 54, 56, 83 und 123 (2) EPÜ. Darüber hinaus sei die generelle Anwendung des Art. 69 EPÜ und des zugehörigen Protokolls in Verfahren vor dem EPA auch erforderlich, um eine einheitliche und konsistente Anspruchsauslegung sicherzustellen, wenn beispielsweise das betreffende Merkmal nicht nur gemäß Art. 123 (3) EPÜ, sondern auch – wie im vorliegenden Fall – gemäß Art. 123 (2) EPÜ auszulegen sei. Die Kammer wies darauf hin, dass nationale Gerichte die in Art. 69 EPÜ und im zugehörigen Protokoll enthaltenen Regeln für die Auslegung von Ansprüchen in Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren anwendeten. Die Kammer schloss sich auch der in T 2007/19, T 1646/12 und T 556/02 vertretenen Auffassung an, wonach ein Begriff nach allgemeinen Grundsätzen nur im Kontext ausgelegt werden könne, sodass Begriffe eines Anspruchs im Gesamtzusammenhang des Anspruchssatzes und der Beschreibung auszulegen seien. Allerdings habe die Kammer in T 1473/19 auch betont, dass der in Art. 69 (1) Satz 1 EPÜ verankerte Grundsatz des Anspruchsprimats begrenze, inwieweit die Bedeutung eines bestimmten Anspruchsmerkmals durch die Beschreibung und die Zeichnungen beeinflusst werden könne. Die Entscheidung T 1473/19 wurde in T 450/20, T 1494/21 und T 367/20 voll und ganz bestätigt. Letztere enthielt mehrere Entscheidungen nationaler Gerichte in den Vertragsstaaten als Beispiele für nationale Rechtsprechung zur Auslegung von Ansprüchen gemäß Art. 69 EPÜ in Nichtigkeitsverfahren.
In T 169/20 widersprach die Kammer der Feststellung in T 1473/19, dass Art. 69 (1) EPÜ in Verbindung mit Art. 1 des zugehörigen Protokolls auf die Auslegung der Ansprüche für die Zwecke der Beurteilung der Patentierbarkeit anwendbar ist. Die Kammer stellte fest, dass die Bestimmungen von Art. 84 EPÜ sowie R. 42 und 43 EPÜ eine angemessene Rechtsgrundlage für die Anspruchsauslegung bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung darstellen. Insbesondere das Erfordernis in Art. 84 Satz 2 EPÜ, dass die Ansprüche durch die Beschreibung gestützt sein müssen, sei ein unmittelbarer und eindeutiger Hinweis auf die Funktion der Beschreibung als Hilfe zum Verständnis des Anspruchsgegenstands.
S. auch dieses Kapitel II.A.6.3.4 "Hineinlesen zusätzlicher Merkmale und Einschränkungen in die Patentansprüche".