2.2. Prioritätsrecht des Anmelders oder seines Rechtsnachfolgers
In T 844/18 befand die Kammer, dass nicht – wie von den Beschwerdeführern vorgebracht – das nationale Recht des Landes, in dem die Prioritätsanmeldung eingereicht worden ist, (im vorliegenden Fall US-Recht) bestimmt, wer als "jedermann" gilt, sondern die Pariser Verbandsübereinkunft, der die USA angehören und die daher Teil des "obersten Gesetzes des Landes" ist (Art. VI Satz 2 der Verfassung der USA). Sie befand weiter, dass diese Festlegung eine rein formale sei. Die Pariser Verbandsübereinkunft und das EPÜ enthalten eigenständige Definitionen der Person, die eine Priorität in Anspruch nimmt. Definiert wird diese Person durch die Handlung, die sie vorgenommen hat, nämlich die Einreichung der Erstanmeldung. Zu den Formerfordernissen für die Übertragung des Prioritätsrechts stellte die Kammer in T 1201/14 fest, dass die zuständigen Organe des EPA in der Regel das nationale Recht heranziehen, da das EPÜ hierzu weder Orientierungshilfen noch kollisionsrechtliche Regelungen enthält. Die Kammer räumte ein, dass es keine ständige Rechtsprechung der Kammern in Bezug auf das hier anwendbare nationale Recht gibt.
In T 1008/96 wurden die dem Streitpatent zugrunde liegende europäische Patentanmeldung und die beiden italienischen Gebrauchsmusteranmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, von zwei verschiedenen Personen eingereicht. Die Kammer entschied, dass ihr die Rechtsnachfolge hinreichend nachgewiesen werden muss. Es ist ein allgemeiner Grundsatz des Verfahrensrechts, dass jeder, der ein Recht geltend macht, seinen Anspruch auf dieses Recht nachweisen können muss (s. J 19/87). Dies ist in Übereinstimmung mit den nationalen Rechtsvorschriften zu klären. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass der Beschwerdegegner den Nachweis der Rechtsnachfolge in Bezug auf die beiden italienischen Gebrauchsmusteranmeldungen, schuldig geblieben war. Somit bestanden für das Streitpatent keine Prioritätsrechte.
In T 62/05 wies die Kammer darauf hin, dass das EPÜ die formalen Voraussetzungen nicht regelt, denen die rechtsgeschäftliche Übertragung von Prioritätsrechten im Hinblick auf die Einreichung einer europäischen Patentanmeldung genügen muss, damit sie für die Zwecke des Art. 87 (1) EPÜ 1973 als wirksam angesehen wird. Angesichts der entscheidenden Folgen eines wirksamen Prioritätstags für die Patentierbarkeit (vgl. Art. 89 EPÜ 1973), müsse die Übertragung des Prioritätsrechts formal nachgewiesen werden (in Analogie zu T 1056/01 – s. auch Zusammenfassung in Kapitel III.G.4.3.5; und unten T 160/13 und T 205/14). Es erschien der Kammer angemessen, einen ebenso hohen Beweismaßstab anzulegen, wie er nach Art. 72 EPÜ 1973 auch für die rechtsgeschäftliche Übertragung einer europäischen Patentanmeldung gilt; diesem Maßstab wurde nach Auffassung der Kammer hier jedoch nicht entsprochen. Außerdem vermochte der Beschwerdeführer die Kammer nicht davon zu überzeugen, dass eine rechtsgeschäftliche Übertragung implizit und stillschweigend vor Ende der Zwölfmonatsfrist erfolgt war.
In T 160/13 bestätigte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung die Frage der Übertragung des Prioritätsrechts zutreffend anhand deutschen Rechts geprüft hat. Für die Übertragung eines Prioritätsrechts bedarf es einer diesbezüglichen zweiseitigen Erklärung beider Anmelder (§§ 398 und 413 i. V. m. §§ 145 ff. BGB). Nach deutschem Recht unterliegt diese keinen besonderen Formvorschriften. Es ergeben sich auch keine weitergehenden Anforderungen formeller Art aus den vom Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen T 1056/01 und T 62/05. Durch die vorgelegte Korrespondenz war die Übertragung nach Ansicht der Kammer hinreichend erwiesen.
In T 205/14 wies die Kammer darauf hin, dass weder in Art. 87 EPÜ 1973 und Art. 88 EPÜ noch in R. 52 und 53 EPÜ vorgegeben ist, wie zu ermitteln ist, welches Recht für die Übertragung des Prioritätsrechts gilt. Sie widersprach der Argumentation in T 62/05 (s. oben), wonach der Übergang formal nachgewiesen werden müsse und ein ebenso hoher Beweismaßstab anzulegen sei wie nach Art. 72 EPÜ 1973. Art. 72 EPÜ 1973 enthält formale Erfordernisse für die wirksame rechtsgeschäftliche Übertragung der europäischen Patentanmeldung und beschränkt dadurch die Beweismittel für die Feststellung einer solchen Übertragung. In Anbetracht des Art. 117 EPÜ und des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung sollte die Beweisregel aber nicht über ihren Geltungsbereich hinaus ausgedehnt werden. Art. 72 EPÜ 1973 harmonisiert das Recht in Bezug auf die formalen Erfordernisse für die Übertragung einer wirksam eingereichten europäischen Patentanmeldung, und es gibt keinen erkennbaren Grund, warum dieser Artikel analog auf die Übertragung eines – der jüngeren Anmeldung vorausgehenden – Prioritätsrechts angewendet werden sollte. Täte man dies bei einer jüngeren europäischen Patentanmeldung, so würde man sich im Falle einer europäischen ersten Anmeldung darüber hinwegsetzen, dass das Prioritätsrecht ein vom Recht an der ersten Anmeldung unabhängiges Recht ist, und im Falle einer nicht europäischen ersten Anmeldung außer Acht lassen, dass Art. 72 EPÜ 1973 nicht für das Verhältnis zwischen dem Anmelder einer europäischen Patentanmeldung und einem anderen Anmelder einer davon verschiedenen ersten Anmeldung gilt. In Art. 72 und R. 20 EPÜ 1973 und den damit zusammenhängenden Vorschriften (Art. 60 (3) EPÜ 1973 und Art. 61 EPÜ) sind vielmehr die Bedingungen festgelegt, unter denen das EPA materiellrechtliche Fragen und Verfahrenshandlungen, die von einer anderen Person als dem registrierten Anmelder vorgenommen werden, berücksichtigen kann (J 2/01, ABl. 2005, 88, Nr. 3 der Gründe). Die Kammer kam zum gleichen Ergebnis wie der Deutsche Bundesgerichtshof, der in seinem Urteil vom 16. April 2013 befunden hatte, dass Art. 87 EPÜ keine formale und separate Übertragung erfordere, wie in Art. 72 EPÜ vorgesehen.
Da die Bestimmungen des EPÜ keine eigenständige Festlegung der Erfordernisse für eine Übertragung des Prioritätsrechts zulassen, ist die Wirksamkeit einer solchen Übertragung eine Sache des nationalen Rechts (s. T 1008/96, vgl. auch den Ansatz in T 160/13, J 19/87 und T 493/06). In den genannten Fällen war allerdings nicht streitig, welches nationale Recht anwendbar ist. In keinem dieser Fälle wurde das Recht des Staates für maßgeblich erachtet, in dem mit der jüngeren Anmeldung Schutz begehrt wurde; ebenso wenig enthalten diese Entscheidungen Hinweise darauf, ob das Recht gelten sollte, welches das Rechtsverhältnis zwischen bisherigem und neuem Rechtsinhaber regelt (z. B. durch Gesellschaftsvertrag, Arbeitsvertrag oder Gesamtrechtsnachfolge), oder das Recht desjenigen Staats, in dem die erste Anmeldung eingereicht wurde. Für den vorliegenden Fall war diese Frage jedoch relevant. Daher befasste sich die Kammer sowohl mit dem im Rechtsverhältnis zwischen bisherigem und neuem Inhaber des Prioritätsrechts geltenden Recht als auch mit dem Recht des Staats, in dem die erste Anmeldung eingereicht wurde. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Übertragung durch Ersteres geregelt wird, nämlich durch das Recht des Staates, in dem das Arbeitsverhältnis zwischen den Anmeldern (Erfindern) der vorläufigen US-Anmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, und dem Pateninhaber bestand (im vorliegenden Fall Israel). Aufgrund der ihr vorliegenden Beweismittel war die Kammer davon überzeugt, dass israelisches Recht keine von beiden Parteien unterzeichnete schriftliche Übertragung verlangt, und dass das Prioritätsrecht vor dem internationalen Anmeldetag des streitigen Patents auf den Patentinhaber übertragen worden war. (S. auch T 517/14).
In T 577/11 wurde festgestellt, dass die vertragliche Vereinbarung zwischen dem Anmelder der Prioritätsanmeldung und dem Anmelder der Nachanmeldung, wonach (nur) das wirtschaftliche Eigentum ("economische eigendom" nach niederländischem Recht) an der Prioritätsanmeldung und dem Recht auf Inanspruchnahme ihrer Priorität auf den Nachanmelder übertragen wird, nicht ausreicht, um Letzteren als Rechtsnachfolger im Sinne des Art. 87 (1) EPÜ 1973 betrachten zu können (s. Orientierungssatz der Entscheidung). Die Kammer erkannte die Rückwirkung des "wirtschaftlichen Eigentums" an, aber nicht die des Rechtstitels. Zum Zeitpunkt der Einreichung der Nachanmeldung sei nur eine beschränkte Übertragung erfolgt, die den Erfordernissen von Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht genüge. Auch unterscheide sich dieser Fall von dem in J 19/87 behandelten Fall der Abtretung nach englischem Recht ("equitable assignment").
Zu dem Erfordernis, dass das Prioritätsrecht vor dem Anmeldetag der europäischen Nachanmeldung übertragen worden sein muss, vertrat die Kammer in T 1201/14 die Auffassung, auch wenn eine rückwirkende Übertragung nach US-Recht wie etwa die vom Beschwerdeführer angeführte "nunc pro tunc"-Übertragung nach US-Recht zulässig sei, wäre diese nach Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht akzeptabel. Die Kammer erklärte ferner, dass eine konkludente Übertragung eines bestimmten Rechts bejaht werden kann, wenn ausreichend klar ist, dass die Parteien eine Vereinbarung geschlossen haben und wie diese lautet. Die Beweislast für die rechtswirksame Übertragung des Prioritätsrechts liegt beim Patentinhaber, da er dieses Recht beansprucht. Zum anzulegenden Beweismaßstab siehe unten.
Die Kammer in T 1103/15 befand, dass ein Beteiligter, der sich zu Schlussfolgerungen äußert, die auf der Grundlage des anwendbaren nationalen Rechts zu ziehen seien, geeignete Beweismittel vorzulegen hat, z. B. durch Einreichung geeigneter Abschriften solcher Rechtstexte als Unterlagen und/oder gegebenenfalls Gutachten von mit dem betreffenden Rechtssystem vertrauten Juristen als Sachverständigenbeweise (T 74/00).
In T 725/14 handelte es sich bei A um den Anmelder sowohl der Stammanmeldung des Streitpatents als auch der Anmeldung, deren Priorität beansprucht wurde. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) behauptete jedoch, das Prioritätsrecht sei mit einer Übertragungserklärung vom 1. März 2007 (D17), d. h. einige Tage vor Einreichung der Stammanmeldung, von A an F (Patentinhaber/Beschwerdegegner) übertragen worden. Der Beschwerdegegner hielt dem entgegen, dass die Übertragung erst an dem Tag wirksam werde, an dem beim EPA ein Antrag auf Eintragung eines Rechtsübergangs gemäß R. 22 EPÜ gestellt werde (s. auch T 404/13), was die Kammer jedoch verneinte. Die Übertragung des Prioritätsrechts muss anhand des nationalen Rechts beurteilt werden (s. z. B. T 205/14, T 1201/14). Das anwendbare Recht wird in der Regel durch die kollisionsrechtlichen Regelungen des angerufenen Gerichts ermittelt, d. h. in diesem Fall der Kammer. Solche Regelungen sind im EPÜ und in den davon abgeleiteten Rechtsvorschriften nicht vorhanden. Die Kammer sah keine Veranlassung, von der zwischen den Beteiligten unstrittigen Position abzuweichen, dass niederländisches Recht galt. Die Prioritätsanmeldung war eine europäische Anmeldung, die nicht durch nationales Recht geregelt und auf die somit kein nationales Recht anwendbar war. Alle übrigen Umstände deuteten auf das niederländische Recht hin. Unter Verweis auf ein Rechtsgutachten, das der Beschwerdeführer zur Erläuterung der Erfordernisse für die Übertragung eines Prioritätsrechts nach dem niederländischen Zivilgesetzbuch eingereicht hatte, kam die Kammer zu dem Schluss, dass D17 ausreichte, um das Prioritätsrecht nach niederländischem Recht zu übertragen. Der Wortlaut von D17 ließ eindeutig erkennen, dass das Prioritätsrecht am 1. März 2007 oder früher an F übertragen worden war. Da D17 als Nachweis der Rechtsübertragung intendiert war, hatte D17 erhebliche Überzeugungskraft, womit der Beschwerdeführer seiner Beweislast genügt hatte. Der Prioritätsanspruch war somit ungültig. S. auch den parallelen Fall T 924/15.
Was das Beweismaß für eine konkludente Übertragung des Prioritätsrechts auf der Grundlage einer allgemeinen Geschäftsstrategie nach deutschem Recht betrifft, so erklärte die Kammer in T 1201/14 (s. oben), dass die Umstände des vorliegenden Falls einen "zweifelsfreien" Nachweis verlangten, weil alle relevanten Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen nur eines Beteiligten am mehrseitigen Verfahren unterlagen. In T 2466/13 hatte die Kammer keinen Zweifel daran, dass die formale Übertragung des Prioritätsrechts stattgefunden hatte, sodass nicht über den anzulegenden Beweismaßstab entschieden werden musste (ähnlich T 2431/17). Dennoch merkte sie an, dass die Rechtsprechung der Kammern in dieser Frage nicht eindeutig ist: In T 205/14 und T 517/14 war nach Abwägung der Wahrscheinlichkeit vorgegangen worden, während in T 1201/14 ein strengerer Maßstab angelegt worden war. Die Kammer in T 1786/15 wandte ebenfalls den Beweismaßstab der "mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" an und berief sich dabei auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Vorbenutzung und insbesondere auf T 472/92 (ABl. 1998, 161), wo alle eine bestimmte Tatsachenfeststellung stützenden Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen nur eines Beteiligten unterlagen (s. Kapitel III.G.4.3.2b)). T 407/15 zufolge war jedoch der Beweismaßstab des Abwägens der Wahrscheinlichkeit anzuwenden.
In T 493/06 wurde entschieden, dass der Beschwerdegegner die Übertragung der Prioritätsanmeldung hinreichend bewiesen hatte. Nach Ansicht der Kammer kann auch die Kopie einer Übertragungsvereinbarung ausreichen, sofern der Nachweis erbracht wird, dass der Inhalt der Kopie mit dem des Originals übereinstimmt. Für einen derartigen Nachweis werden nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern eidesstattliche Versicherungen als zulässiges Beweismittel angesehen, obgleich sie nicht ausdrücklich in Art. 117 (1) EPÜ 1973 genannt sind, und unterliegen der freien Beweiswürdigung (s. z. B. T 970/93, T 804/94, T 558/95, T 43/00; s. auch T 535/08).
In T 407/15 stellte die Kammer fest, dass die beiden US-amerikanischen vorläufigen Anmeldungen, deren Priorität beansprucht worden war, einen mit "Assignee information" (Angaben zum Erwerber) überschriebenen Abschnitt enthielten, in dem der Anmelder der vorliegenden Patentanmeldung als Erwerber ausgewiesen war. Dies genügte ihr jedoch nicht als Beleg dafür, dass auch die Prioritätsrechte an diesen beiden Anmeldungen auf den Anmelder übertragen worden waren. Eine Erstanmeldung begründet nämlich zwei verschiedene und voneinander unabhängige Rechte: zum einen das Recht an der fraglichen Anmeldung und zum anderen das Prioritätsrecht. Der besagte Abschnitt schien aber lediglich einen Rechtsübergang in Bezug auf Patentrechte zu belegen, nicht aber in Bezug auf etwaige Prioritätsrechte an diesen Anmeldungen.
S. auch die Entscheidungen im Kapitel II.D.4.2.
- T 1946/21
Catchword:
1. For the question of whether the applicant is "successor in title" within the meaning of Article 87(1) EPC, it is sufficient for the applicant or patent proprietor to demonstrate that the assignment of the priority right was effective before the subsequent application was filed. The law does not set forth any other condition. In particular, the assignment need not be effective before the filing date of the subsequent application. (see point 2.3). 2. In the context of in-person oral proceedings, a request of a party for a hybrid format to allow the representatives to attend the hearing in person and other attendees to attend remotely should normally be granted only if the participation of the person for whom the access by means of videoconferencing technology has been requested is related to a person whose participation in the oral proceedings is relevant to the case, in particular to the decision to be taken at the oral proceedings (see point 1.).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”