7.2.2 Nachweis der therapeutischen Wirkung
In T 184/16 erinnert die Kammer daran, dass nur dann nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt werden können, um eine bestimmte Wirkung aufzuzeigen, wenn es bereits am Anmeldetag plausibel war, dass die besagte Wirkung erzielt wird (s. T 488/16, T 1329/04 und T 433/05). Beispiele für Fälle, in denen die Plausibilität anerkannt wurde und nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt wurden, sind Fälle, in denen es prima facie keine ernsthaften Zweifel an der Plausibilität gab (T 108/09, T 1760/11 vom 13. November 2012 date: 2012-11-13, T 919/15; in T 1329/04 bestanden dagegen prima facie ernsthafte Zweifel). Im vorliegenden Fall enthielt die Anmeldung in der eingereichten Fassung keine Versuchsergebnisse zur strittigen Plausibilität, d. h. zur Plausibilität, dass es sich bei den beanspruchten Verbindungen um SGLT2-Inhibitoren handelt. Es war daher notwendig festzustellen, ob die Plausibilität vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens und des Stands der Technik anerkannt werden konnte. Die Kammer hielt es für plausibel, dass die therapeutische Wirkung tatsächlich erzielt wird. Das nachträglich veröffentlichte Beweisstück D4 (vom Beschwerdegegner/Patentinhaber eingereichte Vergleichsbeispiele) kann zur Stützung der Offenbarung in der Patentanmeldung berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass eine SGLT1-Inhibierung ebenfalls zu dieser Wirkung beitragen könnte, dies in D4 aber nicht getestet wurde, sei nicht relevant. Da der Beschwerdeführer (Einsprechende) zudem die Beweislast für seine Behauptung trage, könne die Kammer mangels solcher Beweise nicht schließen, dass Verbindungen mit großen Substituenten nicht geeignet seien, die in Anspruch 12 definierte therapeutische Wirkung zu erzielen. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung galt als erfüllt.
In T 391/18 richtete sich Anspruch 1 des Hauptantrags auf eine Kombination von Wirkstoffen (TMC278 und ein NRTI (Nukleosid- oder Nukleotid-Reverse-Transkriptase-Inhibitor) zur Behandlung der HIV-Infektion bei einmal täglicher Verabreichung. Das Patent enthielt keine Nachweise für Kombinationen von TMC278 mit NRTIs. Die anfängliche Plausibilität konnte – in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens – nicht gleichgesetzt werden mit der Erfüllung des Erfordernisses des Art. 83 EPÜ, erlaubte der Kammer jedoch, nachveröffentlichte Beweismittel zu berücksichtigen. Das nachveröffentlichte Dokument D26 (Bericht mit klinischen Tests für die Zulassung) erwies sich dann als nicht ausreichend, um glaubhaft zu machen, dass jede mögliche bei einmal täglicher Verabreichung therapeutisch wirksame Kombination von TMC278 mit NRTIs zur Behandlung von HIV bei einmal täglicher Verabreichung geeignet wäre. Um aus allen unter Anspruch 1 fallenden Möglichkeiten geeignete Kombinationen und ihre entsprechenden Dosen zu ermitteln, wäre ein unzumutbarer Forschungsaufwand erforderlich. Auf dem Gebiet der pharmazeutischen Kombinationen müssen die Wechselwirkungen jeder Arzneimittelkombination geprüft werden, um festzustellen, ob und in welcher Dosis die Kombination therapeutisch wirksam ist. Eine solche Bewertung beinhaltet klinische Studien, die nicht als Routinetests angesehen werden können. Selbst wenn, wie der Beschwerdegegner (Patentinhaber) argumentierte, die Anzahl der NRTIs, die für die einmal tägliche Verabreichung geeignet sind, nicht besonders hoch wäre, würde der Forschungsbedarf weit über das hinausgehen, was als Routinetests angesehen werden kann. Daher bestanden ernsthafte Zweifel, die durch nachprüfbare Fakten untermauert wurden. Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 24, der auf die in D26 getestete Kombination beschränkt war, entsprach jedoch Art. 83 EPÜ.
Im Ex-parte-Fall T 2015/20 hielt die Prüfungsabteilung es nicht für plausibel, dass Aclidiniumbromid zur Behandlung von Asthma geeignet sei. Die Anmeldung enthalte nur Versuchsergebnisse zur Behandlung von COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung), obgleich es Teil des allgemeinen Fachwissens sei, wie in D5 dargelegt, dass COPD und Asthma unterschiedliche Erkrankungen mit unterschiedlichen Mechanismen seien. Die Kammer stellte fest, dass die Angaben in D5 keine Zweifel an der Aussage in der Anmeldung über die Wirksamkeit der Behandlung aufwürfen. Das nachveröffentlichte Dokument D6 warne lediglich, dass die Verwendung von "Duakllir Genuair" bei Asthma nicht offiziell zugelassen sei, was an sich keinen Grund für ernsthafte Zweifel an der beanspruchten Eignung von Aclidinium zur Behandlung von Asthma darstelle. Somit lägen keine ernsthaften Zweifel vor, die den Einwand unzureichender Offenbarung stützen könnten. Weder T 609/02 noch die spätere Rechtsprechung signalisierten eine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung, insbesondere hinsichtlich der Voraussetzung für einen Einwand unzureichender Offenbarung, dass ernsthafte Zweifel bestehen müssten. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall die angegebene Eignung von Aclidinium zur Behandlung von Asthma keiner im Stand der Technik vorherrschenden Meinung entgegensteht. In diesem Zusammenhang erachtete die Kammer die Aussage in der Anmeldung, dass die Behandlung von Atemwegserkrankungen, insbesondere Asthma und COPD, mit Aclidinium bei Verabreichung durch Inhalation in einer Nenndosis von etwa 400 µg am wirksamsten sei, als bedeutsame technische Lehre, die alles andere als eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms war und der es prima facie nicht an Plausibilität mangelte. Diese Lehre war als solche falsifizierbar in dem Sinne, dass sie angefochten werden konnte, und wurde daher als Information in Form eines spezifischen technischen Beitrags angesehen, der über eine unzureichende verbale Erklärung hinausgeht. Nachdem die Kammer zu dem Schluss gelangt war, dass keine ernsthaften Zweifel an der angegebenen Eignung bestanden, befand sie, dass der Anmeldung die ausreichende Offenbarung nicht abgesprochen werden konnte. Die Kammer wandte sich der Prüfung der eigentlichen erfinderischen Tätigkeit zu und befasste sich auch hier mit der Frage der Plausibilität.
In der Entscheidung T 966/18, die eine detaillierte technische Begründung enthielt, hielt die Kammer die medizinische Verwendung des Anspruchs 1 aufgrund mehrerer angeführter Dokumente, die das allgemeine Wissen des Fachmanns illustrierten, zusammen mit der relevanten Offenbarung des Patents für plausibel. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Fachmann durch das nachgewiesene allgemeine Fachwissen auf einen Zusammenhang zwischen der Reduzierung der α-Synuclein-Aggregation und der Behandlung der Lewy-Körper-Krankheit hingewiesen wurde. Nachveröffentlichte Beweismittel wurden ebenfalls berücksichtigt und bestätigten diese Schlussfolgerung.
Zu nachveröffentlichten Dokumenten s. auch dieses Kapitel II.C.6.8. sowie die Vorlageentscheidung T 116/18 (ABl. 2022, A76), die in erster Linie die Frage der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) betrifft, aber auch die ausreichende Offenbarung (Art. 83 EPÜ) behandelt und drei große Rechtsprechungslinien ausmacht: "Ab-initio-Plausibilität" (die Plausibilität wurde in den in T 116/18 angeführten Entscheidungen letztlich verneint), "Ab-initio-Implausibilität" (die Plausibilität wurde letztlich bejaht) und "keine Plausibilität". Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen G 2/21 anhängig.
- G 2/21
Headnote:
I. Evidence submitted by a patent applicant or proprietor to prove a technical effect relied upon for acknowledgement of inventive step of the claimed subject-matter may not be disregarded solely on the ground that such evidence, on which the effect rests, had not been public before the filing date of the patent in suit and was filed after that date.
II. A patent applicant or proprietor may rely upon a technical effect for inventive step if the skilled person, having the common general knowledge in mind, and based on the application as originally filed, would derive said effect as being encompassed by the technical teaching and embodied by the same originally disclosed invention.