7.1. Erste medizinische Verwendung
Nach Art. 53 c) EPÜ sind Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper ("medizinische Methoden") vorgenommen werden, von der Patentierbarkeit ausgenommen. Dies gilt nicht für Erzeugnisse, insbesondere Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem dieser Verfahren.
Art. 54 (4) EPÜ (früher Art. 54 (5) EPÜ 1973) sieht vor, dass die allgemeinen Bestimmungen über die Neuheit die Patentfähigkeit von zum Stand der Technik gehörenden Stoffen und Stoffgemischen, die zur Anwendung in einem der in Art. 53 c) EPÜ (früher Art. 52 (4) EPÜ 1973) genannten Verfahren bestimmt sind, nicht ausschließen sollen, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört. Somit führt die erwähnte Bestimmung neben dem allgemeinen Neuheitsbegriff für Stoffe und Stoffgemische auf dem Gebiet der chirurgischen und therapeutischen Behandlung sowie der Diagnostizierverfahren am menschlichen und tierischen Körper einen besonderen Neuheitsbegriff ein, der auf anderen technischen Gebieten unbekannt ist (T 128/82, ABl. 1984, 164).
Mit dem neuen Art. 54 (4) EPÜ, der dem früheren Art. 54 (5) EPÜ 1973 entspricht, war keine grundlegende Änderung beabsichtigt. Beide Bestimmungen beziehen sich auf die sogenannte erste medizinische Indikation eines an sich bereits bekannten Stoffs oder Stoffgemischs (G 2/08 date: 2010-02-19, ABl. 2010, 456). Ein Erzeugnis zur Anwendung in einem Verfahren nach Art. 53 c) EPÜ ist entweder an sich neu und kann nach Art. 53 c) Satz 2 EPÜ Gegenstand eines Erzeugnisanspruchs sein, oder ein Erzeugnis (Stoff oder Stoffgemisch) ist an sich bereits bekannt, kann aber dennoch nach Art. 54 (4) EPÜ patentiert werden, sofern es noch nicht in einem Verfahren nach Art. 53 c) Satz 1 EPÜ angewendet wurde. Diese erste medizinische Indikation eines bekannten Stoffs oder Stoffgemischs ist in der Regel Gegenstand breiter allgemeiner Ansprüche in Form von zweckgebundenen Stoffansprüchen. In G 1/83 (ABl. 1985, 60) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Erfinder einer "ersten medizinischen Indikation" einen zweckgebundenen Stoffschutz für bekannte Stoffe oder Stoffgemische erhalten kann, der sich nicht auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt, die für eine bestimmte therapeutische Anwendung in eine entsprechende Darreichungsform gebracht wurden. Er kommt also durch den zweckgebundenen Stoffanspruch in den Genuss eines sehr weiten Schutzes.
Nach Art. 54 (4) EPÜ wird bekannten Stoffen oder Stoffgemischen Neuheit zuerkannt, sofern sie zur erstmaligen Anwendung in einem solchen medizinischen Verfahren bestimmt sind. Entsprechend der Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollte demjenigen, der als Erster eine Anwendung eines Stoffs oder Stoffgemischs in einem medizinischen Verfahren zeigt, daher ein weiter Schutz zukommen, der sämtliche medizinische Verfahren umfasst, selbst wenn in der Anmeldung nur eine spezifische Anwendung offenbart wird (s. T 128/82, ABl. 1984, 164; T 36/83, ABl. 1986, 295).