5.5.2 Sorgfaltspflicht des zugelassenen Vertreters
(i) Rechtsfehler oder falsche Auslegung sind nicht entschuldbar
In J 3/88 bemerkte die Juristische Kammer, man müsse berücksichtigen, dass die Vertragsstaaten durch Art. 134 (1) EPÜ 1973 die Vertretung der Anmelder vor dem EPA grundsätzlich auf "zugelassene Vertreter" beschränkt hätten, die aufgrund ihrer Qualifikation eine bestmögliche Vertretung gewährleisteten. Daraus folge, dass ein Vertreter sich seiner Verantwortung für die Wahrnehmung von Aufgaben nicht entziehen könne, die ihm aufgrund seiner Qualifikation persönlich zufielen, wie z. B. die Auslegung von Gesetzen und Übereinkommen. Wenn er diese Aufgaben einem Angestellten übertrage und diesem bei der Bearbeitung ein Fehler unterlaufe, der zur Versäumung einer Frist führe, könne der Vertreter sich nicht darauf berufen, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet habe (s. auch J 33/90).
In J 31/89 bestätigte die Juristische Kammer, dass die unrichtige Auslegung des EPÜ aufgrund eines Rechtsirrtums seitens des ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreters bei der Berechnung von Fristen (im vorliegenden Fall wurde die Frist zur Zahlung der Jahresgebühr mit Zuschlagsgebühr falsch berechnet) nicht entschuldbar sei. Sowohl der Beschwerdeführer als auch der Vertreter hatten den letztmöglichen Termin für die wirksame Entrichtung der Jahresgebühr falsch berechnet (s. J 42/89, T 853/90, T 493/95, T 881/98, T 578/14).
In T 516/91 hatte es der Vertreter nach Auffassung der Kammer an der gebotenen Sorgfalt fehlen lassen, indem er fälschlich von der Möglichkeit einer Verlängerung der in Art. 108 EPÜ 1973 festgelegten Fristen ausgegangen sei (s. auch T 248/91, T 853/90, T 316/13).
Gemäß T 316/13 wird von einem zugelassenen Vertreter erwartet, dass er die Vorschriften des EPÜ bezüglich der verfügbaren Rechtsbehelfe bei Fristversäumnissen kennt, auch wenn er bis dahin nie mit einem solchen Problem zu tun hatte, und nicht darauf wartet, dass ihm die Beschwerdekammer ausdrücklich mitteilt, was zu tun ist.
(ii) Ausnahmen von der Regel, dass Rechtsfehler oder falsche Auslegung nicht entschuldbar sind
In T 624/96 war die Kammer zunächst im Zweifel darüber, worauf der Fehler bei der Berechnung der vom EPÜ bestimmten Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung eigentlich zurückzuführen war. So hätte es sich bei diesem Fehler um einen "Rechtsirrtum" infolge mangelnder Kenntnis oder falscher Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens handeln können, beispielsweise im Sinne der Entscheidungen J 31/89 oder T 853/90. In Anbetracht der Umstände konnte die Kammer in diesem Fall aber das Vorliegen eines solchen "Rechtsirrtums" seitens des Vertreters ausschließen. Der Vertreter verwies auf ein früheres Beschwerdeverfahren, bei dem er denselben Anmelder vertreten hatte; dies zeige, dass er über eine gewisse praktische Erfahrung mit dem Beschwerdeverfahren verfügte. Darüber hinaus legte er Kopien von Ausbildungsprogrammen vor, wo er Vorträge über das europäische Patent und das Verfahren vor dem EPA gehalten hatte. Eine Unkenntnis des Übereinkommens durch den Vertreter, die zu einem Rechtsirrtum bei der Berechnung der Fristen für die Einreichung der Beschwerdebegründung führen könnte, lässt sich aus diesen Gründen ausschließen.
In J 28/92 entschied die Juristische Kammer, dass die Fehlinterpretation einer Bestimmung des EPÜ durch einen Vertreter keineswegs einer vernünftigen Grundlage entbehrt habe und der Vertreter nicht dafür bestraft werden könne, dass er zu einer nicht unplausiblen Auslegung einer Regel des Übereinkommens gelangt sei, die sich später als falsch erwiesen habe. Die vom Vertreter zugrunde gelegte Auslegung einer Rechtsvorschrift des EPÜ sei nicht auf mangelnde Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt zurückzuführen und sei auch nicht ursächlich für eine Missachtung des Sorgfaltsgebots. In T 493/08 teilte die Kammer die in J 28/92 vertretene Auffassung und stellte fest, dass es von der Regel, dass ein Rechtsfehler nicht entschuldbar sei, Ausnahmen geben könne, die jedoch nur nach strengen Kriterien gewährt werden könnten.
In J 13/13 bestätigte die Juristische Kammer, dass ein Rechtsirrtum unter strengen Voraussetzungen für entschuldbar erachtet werden kann, nämlich dann, wenn berechtigte Zweifel und Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Auslegung einer Vorschrift bestehen. Berechtigt sind solche Zweifel und Meinungsverschiedenheiten nach Auffassung der Kammer nur dann, wenn nach einer gewissenhaften Abklärung unter Einbezug der Rechtsprechung der Beschwerdekammern kein objektiv eindeutiges Auslegungsergebnis resultiert und die nachträglich als unzutreffend angesehene Auffassung vertretbar erscheint.