1. Allgemeine Grundsätze
In T 190/03 date: 2005-03-18 (ABl. 2006, 502; s. auch R 8/13 vom 20. März 2015 date: 2015-03-20, R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25, T 283/03, T 572/03 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18, T 1193/02, T 1021/01 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18, T 281/03 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18 und T 281/03 vom 30. März 2006 date: 2006-03-30) stellte die Kammer fest, dass Befangenheit anhand der zwei folgenden Prüfungen zu bestimmen sei: erstens einer "subjektiven" Prüfung, die Beweise für eine tatsächliche Befangenheit des betreffenden Mitglieds erfordere, zweitens einer "objektiven" Prüfung, bei der die Kammer beurteile, ob die Umstände des Falls Anlass zu einer objektiv berechtigten Besorgnis der Befangenheit gäben. Die Kammer führte aus, dass tatsächliche Befangenheit ein Wesensmerkmal des Kammermitglieds ist und ihr Vorliegen dem Grundsatz des fairen Verfahrens widerspricht. Verdächtigungen und äußerer Anschein deuten jedoch nicht ausreichend auf tatsächliche Befangenheit hin. Es gehört nämlich zu den grundlegenden Pflichten eines Kammermitglieds, im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit Entscheidungen objektiv zu treffen und sich dabei weder von persönlichen Interessen noch von den Äußerungen oder Handlungen Dritter beeinflussen zu lassen. Daher ist bis zum Beweis des Gegenteils von der Unbefangenheit eines Kammermitglieds auszugehen (s. auch G 2/08 vom 15. Juni 2009 date: 2009-06-15 und R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25).
Andererseits stellte die Kammer fest, dass der Anschein von Befangenheit äußerliche Aspekte ins Spiel bringt und zeigt – unabhängig davon, ob das Mitglied tatsächlich voreingenommen ist – welches Vertrauen die Kammer in der Öffentlichkeit genießt; eine alte Rechtsweisheit besagt, dass nicht nur gerecht entschieden werden muss, sondern dass dies auch sichtbar werden muss (vgl. auch T 900/02, T 2291/08 und R 8/13 vom 20. März 2015 date: 2015-03-20). Da dieser Aspekt von Befangenheit den äußeren Anschein betrifft, muss er nicht in gleicher Weise nachgewiesen werden wie tatsächliche Befangenheit; vielmehr sind die Umstände daraufhin zu prüfen, ob sie Anlass zu einer objektiv berechtigten Besorgnis der Befangenheit geben (objektives Element). Dies entspricht im Wesentlichen den "objektiven" oder "triftigen" Gründen, die das EPA in seiner Rechtsprechung verlangt. Die Kammer stellte fest, dass das oben Gesagte mit in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts in Einklang steht, so etwa mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
In G 1/05 vom 7. Dezember 2006 date: 2006-12-07 (ABl. 2007, 362) stellte die Große Beschwerdekammer fest: eine Ablehnung ist nach Art. 24 (3) Satz 1 EPÜ nicht nur dann gerechtfertigt, wenn tatsächlich eine Befangenheit des betreffenden Kammermitglieds gegeben ist. Es reicht aus, dass eine Besorgnis (s. unten Kapitel III.J.4., III.J.5. und III.J.6.), d. h. ein Anschein, der Befangenheit vorliegt (in der Rechtsprechung des EGMR wird dies seit dem Urteil in der Sache Piersack gegen Belgien (1982) vom 1. Oktober 1982, Nr 8692/79, Ziff. 30 als "objektive Prüfung" bezeichnet). Die Gerichte müssen unter Ausschluss jeglicher Risiken gewährleisten, dass nicht nur gerecht entschieden wird, sondern dass dies für die Öffentlichkeit auch sichtbar wird. Hier steht das Vertrauen auf dem Spiel, das die Beschwerdekammern in der Öffentlichkeit genießen (s. auch R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25, T 190/03 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18, ABl. 2006, 502; EGMR, Puolitaival und Pirttiaho gegen Finnland vom 23. November 2004, Nr. 54857/00, Ziff. 42). Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, dass in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und anderswo aber auch allgemein anerkannt ist, dass die "Besorgnis" des Beteiligten bei objektiver Betrachtung gerechtfertigt sein muss. Rein subjektive Eindrücke oder allgemeine Verdächtigungen sind nicht ausreichend (s. auch G 3/08 vom 16. Oktober 2009 date: 2009-10-16, R 2/12 vom 26. September 2012 date: 2012-09-26, T 1674/12, T 1020/06 vom 28. November 2008 date: 2008-11-28, T 985/01 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18 und T 190/03 vom 18. März 2005 date: 2005-03-18, ABl. 2006, 502, Nr. 7 der Gründe). Der Standpunkt des Betroffenen ist wichtig, aber nicht entscheidend (EGMR: Puolitaival, Ziff. 42; s. auch T 241/98 vom 22. März 1999 date: 1999-03-22 und R 8/13 vom 20. März 2015 date: 2015-03-20). Hier lautet die Frage, ob eine vernünftige, objektive und informierte Person angesichts der Sachlage mit gutem Grund befürchten würde, dass der Richter den Fall nicht unvoreingenommen behandelt hat oder behandeln wird. Somit müsste ein vernünftiger Betrachter unter Berücksichtigung der Umstände des Falls zu dem Schluss gelangen, dass der Beteiligte die Unbefangenheit des abgelehnten Mitglieds mit gutem Grund in Zweifel ziehen könnte (s. auch T 954/98 vom 9. Dezember 1999 date: 1999-12-09, T 1257/14 vom 5. Februar 2018 date: 2018-02-05).
- T 2274/22
Zusammenfassung
In T 2274/22 war ein Mitglied der Öffentlichkeit von Einsprechenden-Seite (Herr T.) vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung unbeabsichtigt dem virtuellen Dolmetscher-Besprechungsraum zugeordnet worden, wo er mehr als 10 Minuten mithörte, bevor er die anderen Besprechungsteilnehmer darüber in Kenntnis setzte und ausgeschlossen wurde. Während dieser Zeit kommunizierte Herr T. dem zugelassenen Vertreter der Einsprechenden und seinem Kollegen Details aus dem mitgehörten Inhalt der Vorbesprechung. Kurz nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung legte der Vertreter der Einsprechenden den obigen Vorfall offen. Die Patentinhaberin befürchtete eine Benachteiligung und sprach dabei eine Neubesetzung der Einspruchsabteilung an. Die Einsprechende stellte daraufhin mit einem Kurzprotokoll die erhaltenen Informationen schriftlich zur Verfügung. Die Patentinhaberin war der Auffassung, diese gingen entgegen der Aussage des Vorsitzenden über den Inhalt des Ladungszusatzes hinaus, und beantragte schriftlich die Ablehnung der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit.
Zur Frage, ob ein schwerwiegender Verfahrensfehler im Vorfeld der mündlichen Verhandlung begangen wurde, erläuterte die Kammer, die Anwesenheit einer Partei in einer Vorbesprechung zwischen einem oder mehreren Mitgliedern einer Einspruchsabteilung und den Dolmetschern stelle grundsätzlich einen Verfahrensfehler dar, unabhängig davon, ob dieser durch einen technischen oder menschlichen Fehler verursacht geworden sei. Ein solcher Verfahrensfehler müsse aber nicht zwangsläufig in einen schwerwiegenden münden. Vielmehr könne er dadurch geheilt werden, dass die abwesende Partei vor Eröffnung der sachlichen Debatte auf den gleichen Kenntnisstand wie die anwesende gebracht werde.
Nach Ansicht der Kammer konnte allein die Anwesenheit von Herrn T. beim Dolmetscher-Briefing auch keine Besorgnis der Befangenheit der Einspruchsabteilung begründen. Denn, da die Zuschaltung eines Parteivertreters in den virtuellen Besprechungsraum vorliegend unstreitig versehentlich erfolgt sei, und die Einspruchsabteilung sie umgehend beendet habe, sobald sie ihrer gewahr wurde, bestehe objektiv kein Verdacht, die Einspruchsabteilung habe hier willentlich für eine Bevorzugung der Einsprechenden gesorgt oder diese billigend in Kauf genommen. Jedoch sei die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung den Vorfall nicht von sich aus angesprochen und der Patentinhaberin mitgeteilt habe, dazu geeignet, bei der Patentinhaberin den Eindruck einer Parteilichkeit zu erwecken. Dass die Einspruchsabteilung sich zudem auch nach Intervention der Einsprechenden, die ausdrücklich auf einen möglichen Verfahrensfehler hingewiesen hatte, nicht aktiv an der Aufklärung des Vorfalls beteiligte, sondern den Vorschlag der Einsprechenden, eine schriftliche Zusammenfassung einzureichen, abwartete und diesem lediglich zustimmte, könne einen solchen Eindruck noch verstärken. Dass eine inhaltliche Auseinandersetzung der Einspruchsabteilung mit dem Kurzprotokoll ausgeblieben sei, stelle aus Sicht eines objektiven Beobachters einen weiteren Umstand dar, der zum Anschein ihrer Befangenheit beitrage.
Die Kammer rief in Erinnerung, dass Besorgnis der Befangenheit bereits dann gegeben ist, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, auch wenn andere Tatsachen dagegensprechen mögen. Vorliegend war nach Ansicht der Kammer eine Befangenheit der Einspruchsabteilung objektiv zu besorgen, da diese keine der aufgetretenen Gelegenheiten ergriffen hatte, die Patentinhaberin selbst über den Vorfall zu informieren und selbst zu dessen Aufklärung beizutragen. Daher hätte dem Antrag der Patentinhaberin auf Ablehnung ihrer Mitglieder analog zu Art. 24(3) EPÜ stattgegeben und die Einspruchsabteilung neu besetzt werden müssen.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die angefochtene Entscheidung nicht von der Einspruchsabteilung in ihrer ursprünglichen Besetzung hätte getroffen werden dürfen. Dass dies dennoch geschah, stelle einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Falls an eine neu zu besetzende Einspruchsabteilung führe. Darauf wie groß der ursprüngliche Fehler war, komme es in der Regel nicht an, wenn er letztlich ursächlich für einen wesentlichen Verfahrensmangel gewesen sei. Entscheidend sei allein, dass der aus ihm resultierende Verfahrensmangel als so schwerwiegend eingestuft wird, dass er zu einer Zurückverweisung führt. Dies sei vorliegend der Fall. Die Kammer wies zuletzt darauf hin, dass wegen der räumlichen Distanz und nur mittelbaren Präsenz in einer Videokonferenz, hier ein "schlechter Eindruck" zudem schneller entstehen könne und somit auch die Schwelle sinke, ab der eine Befangenheit befürchtet werden könne. Daher seien an eine ordnungsgemäße Verhandlungsführung und insbesondere den Umgang mit technischen Pannen hohe Maßstäbe anzulegen.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache