3. Beurteilung mangelnder Einheitlichkeit der Erfindung
Mangelnde Einheitlichkeit kann a priori ersichtlich sein, d. h. vor Prüfung der wesentlichen Bestandteile des Anspruchs im Vergleich zu dem bei der Recherche ermittelten Stand der Technik (W 1/96 sowie W 6/90, ABl. 1991, 438). Wird der Einwand der mangelnden Einheitlichkeit a priori erhoben, so ist die technische Aufgabe ausschließlich anhand der Beschreibung und nicht anhand des Stands der Technik zu ermitteln (vgl. W 50/91, W 52/91, W 22/92, W 52/92 und T 188/04).
Die Befugnisse des EPA als ISA bei der Beurteilung der Einheitlichkeit a posteriori, d. h. nach Berücksichtigung des bei der Recherche ermittelten Stands der Technik, wurden von der Großen Beschwerdekammer in G 1/89 (ABl. 1991, 155; nach Befassung durch die Beschwerdekammer in W 12/89 date: 1989-06-29, ABl. 1990, 152) und in G 2/89 (ABl. 1991, 166; nach Befassung durch den Präsidenten des EPA) geklärt. Die vorlegende Kammer befasste die Große Beschwerdekammer unter anderem mit der Frage, ob die ISA befugt ist, eine internationale Anmeldung materiellrechtlich auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie gemäß Art. 17 (3) a) PCT untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach R. 13.1 PCT erfüllt. Der Präsident des EPA ersuchte die Große Beschwerdekammer, sich dazu zu äußern, ob das EPA als ISA eine zusätzliche Recherchengebühr verlangen kann, wenn es die internationale Anmeldung a posteriori nicht mehr für einheitlich hält. Die beiden Vorlagen wurden in einem zusammengelegten Verfahren behandelt.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die verfahrenstechnische Trennung von Recherche und (materiellrechtliche) Prüfung sowohl nach dem PCT als auch nach dem EPÜ 1973 wegen der funktionellen Beziehung zwischen der Recherche und der Prüfung zu Überschneidungen führt. Wenn sich die Recherche auch grundsätzlich darauf beschränkt, den relevanten Stand der Technik für die spätere Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit durch die prüfende Behörde (d. h. die IPEA und/oder das Bestimmungsamt nach dem PCT bzw. die Prüfungsabteilung nach dem EPÜ 1973) zu ermitteln und darüber zu berichten, muss sich der Recherchenprüfer oft eine vorläufige Meinung über diese Fragen bilden, um eine effiziente Recherche durchführen zu können. Andernfalls wäre es ihm schlicht unmöglich, die Relevanz der Dokumente des Stands der Technik zu beurteilen und den Recherchenbericht entsprechend abzufassen (für weitere Ausführungen zu diesem Aspekt s. auch die Zusammenfassung in II.B.4.2).
Die Große Beschwerdekammer wies ferner darauf hin, dass es weder im PCT noch in seiner Ausführungsordnung Bestimmungen darüber gibt, wie zu entscheiden ist, ob eine internationale Anmeldung dem Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung entspricht. In den Richtlinien für die internationale Recherche nach dem PCT heißt es jedoch, dass mangelnde Einheitlichkeit möglicherweise sofort – a priori –, oder erst a posteriori, erkennbar sein kann (s. Abschnitt RL/ISPE 10.03 der PCT-Richtlinien für die internationale Recherche und die internationale vorläufige Prüfung in der seit 1.3.2022 geltenden Fassung). Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die ISA die Einheitlichkeit der Erfindung a posteriori untersucht, d. h. nach einer Beurteilung der Ansprüche im Hinblick auf ihre Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber dem Stand der Technik. Die entsprechenden EPA-Richtlinien zeigen, dass auch im EPÜ 1973 ausdrücklich vorgesehen ist, dass die Beurteilung der Einheitlichkeit durch die Recherchenprüfung a posteriori vorgenommen werden kann (s. frühere Richtlinien B‑VII, 5; vgl. R. 46 EPÜ 1973; s. insbesondere Richtlinien F‑V, 4 – Stand März 2022 sowie R. 64 EPÜ). Daher sind die Richtlinien als mit dem PCT und dem EPÜ 1973 in Einklang stehend zu betrachten.
Die Große Beschwerdekammer bestätigte, dass das EPA als ISA und die Beschwerdekammern bei der Entscheidung über Widersprüche gemäß Art. 17 (3) a) PCT verpflichtet sind, nach den PCT-Rechercherichtlinien vorzugehen (vgl. Art. 2 der Vereinbarung zwischen der EPO und der WIPO in der damals geltenden Fassung). So befand die Große Beschwerdekammer in G 1/89, dass, wie in diesen Richtlinien vorgesehen, die Feststellung nach Art. 17 (3) a) PCT, dass eine internationale Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nicht erfüllt, nicht nur "a priori", sondern auch "a posteriori" getroffen werden kann. In G 2/89 erklärte sie, dass das EPA als ISA nach Art. 17 (3) a) PCT eine zusätzliche Recherchengebühr verlangen kann, wenn es der Auffassung ist, dass die internationale Anmeldung "a posteriori" keine Einheitlichkeit der Erfindung aufweist. Der Grundsatz, wonach das EPA bei der Durchführung einer internationalen Recherche die Feststellung der Nichteinheitlichkeit auch "a posteriori" treffen kann (G 1/89, ABl. 1991, 155; G 2/89, ABl. 1991, 166), gilt genauso bei der Durchführung einer europäischen Recherche, weil in beiden Fällen die Recherchen und die Recherchenberichte praktisch identisch sind (s. T 87/88, ABl. 1993, 430).
Nach T 94/91 besagt Art. 82 EPÜ 1973 eindeutig, dass europäische Patentanmeldungen das Kriterium der Einheitlichkeit der Erfindung ohne Einschränkung erfüllen müssen. Das EPÜ 1973 unterscheidet nicht zwischen a priori oder a posteriori festgestellter mangelnder Einheitlichkeit. Es spielt keine Rolle, ob die mangelnde Einheitlichkeit sofort festgestellt wird oder erst bei der Untersuchung von Unterlagen im Rahmen der Recherche oder Prüfung. Dieselbe Auslegung findet sich auch in den Richtlinien und in G 2/89 (ABl. 1991, 166), die sich zwar auf PCT-Anmeldungen bezog, aber ein ähnliches Verfahren betraf.
Stellt die Recherchenabteilung mangelnde Einheitlichkeit fest, so teilt sie dem Anmelder in der Regel bei Übersendung des teilweisen europäischen Recherchenberichts für die in den Ansprüchen zuerst genannte Erfindung oder Gruppe von Erfindungen mit, dass für jede weitere Erfindung, die der europäische Recherchenbericht erfassen soll, eine weitere Recherchengebühr zu entrichten ist (R. 64 (1) EPÜ). Das entsprechende Verfahren vor der ISA ist in Art. 17 (3) a) PCT geregelt. R. 164 EPÜ enthält spezielle Regelungen für Euro-PCT-Anmeldungen, die in die europäische Phase eingetreten sind. Die einschlägigen Entscheidungen sind in II.B.6 "Mehrere Erfindungen – weitere Recherchengebühren" zusammengefasst.