4.5.2 Verfahren mit sowohl therapeutischer als auch nicht therapeutischer Wirkung
In T 116/85 (ABl. 1989, 13) vertrat die Kammer die Auffassung, dass ein beanspruchtes Verfahren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, wenn es die therapeutische Behandlung eines tierischen Körpers erforderlich macht, obwohl die therapeutische Behandlung von Tieren gemeinhin ein Aspekt der Landwirtschaft ist und landwirtschaftliche Verfahren im Allgemeinen patentfähig sind. In diesem Fall hielt die Kammer es jedoch für rechtlich unmöglich, zwischen der Anwendung des Verfahrens durch einen Züchter und der durch einen Tierarzt zu unterscheiden, ihm also im ersten Fall gewerblichen Charakter zuzuerkennen, im zweiten Fall als therapeutische Behandlung jedoch die Patentfähigkeit abzusprechen.
In T 290/86 (ABl. 1992, 414) hielt die Kammer das offenbarte Verfahren zur Beseitigung von Zahnbelag für nicht gewährbar, weil es unweigerlich auch eine therapeutische Wirkung, nämlich die der Vorbeugung gegen Karies und periodontale Erkrankungen, habe. Ob eine beanspruchte Erfindung unter das Patentierungsverbot des Art. 52 (4) EPÜ 1973 fällt, hängt nach Auffassung der Kammer insbesondere vom Wortlaut des betreffenden Anspruchs ab. Ist die beanspruchte Erfindung nicht allein auf eine kosmetische Wirkung gerichtet, sondern definiert sie zwangsläufig auch eine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers, so ist ein solcher Anspruch nicht patentierbar (in Abgrenzung gegen T 144/83, ABl. 1986, 301). Hat die beanspruchte Verwendung eines chemischen Stoffs neben einer kosmetischen Wirkung immer auch eine therapeutische Wirkung, so definiert die Erfindung in dieser beanspruchten Form zwangsläufig auch eine therapeutische Behandlung (s. auch T 475/12).
In T 780/89 (ABl. 1993, 440) bezog sich der streitige Anspruch sich auf eine Methode zur allgemeinen Immunstimulierung bei Tieren, was unter anderem dazu führte, dass damit die Fleischproduktion erhöht werde. Die Kammer war der Ansicht, dass die erhöhte Fleischproduktion auf den besseren Gesundheitszustand der Tiere zurückzuführen sei. Auch gehe die allgemeine Stimulierung des Immunsystems zwangsläufig mit einer spezifischen Prophylaxe gegen bestimmte Infektionen einher. Der Sekundärerfolg einer therapeutischen Behandlung mache diese noch nicht patentierbar.
In T 438/91 behauptete der Patentinhaber, der Hauptzweck des beanspruchten Verfahrens bestehe darin, dass die Tiere an Gewicht zunähmen, und diese Wirkung sei von der anderen, nämlich der Vorbeugung gegen die Ruhr bzw. deren Heilung, zu trennen. Letzteres sei lediglich eine vorteilhafte Nebenwirkung. Die Kammer befand aufgrund der Offenbarung in der Patentschrift, dass beide Wirkungen mit der Fütterung der Tiere zusammenhingen und der Erfindung die Absicht zugrunde liege, bei den an der Ruhr erkrankten Tieren beide Wirkungen gleichzeitig zu erzielen (therapeutische Behandlung) und bei den noch nicht befallenen Tieren den Ausbruch der Krankheit zu verhindern (prophylaktische Behandlung).
In T 1077/93 stellte die Kammer fest, dass eine Zusammensetzung die die menschliche Epidermis vor UV-Strahlen schützen soll und insbesondere die Hautrötung, in der sich die schädigende Wirkung der Sonne auf die Haut bekanntlich am deutlichsten manifestiert, sowie Zellveränderungen in der Haut wie die Bildung entarteter und nekrotischer Keratinozyten – allgemein als "sun burn cells (SBC)" bezeichnet –verringern soll, unter das Patentierungsverbot fällt. Die Beschwerdekammer stellte in Anlehnung an T 820/92 (ABl. 1995, 113) fest, dass das Patentierungsverbot für therapeutische Verfahren nicht dadurch umgangen werden könne, dass der Anspruch schlicht so formuliert werde, als sei der Gegenstand des Verfahrens als unteilbares Ganzes nicht therapeutischer Natur. Da die Schutzwirkung für die Haut zumindest teilweise nicht nur auf eine Filterung des Lichts an der Hautoberfläche, sondern vielmehr auf eine Wechselwirkung mit dem Zellgeschehen in der Epidermis zurückzuführen sei, liege eine echte therapeutische Wirkung vor.
T 1635/09 (ABl. 2011, 542) betraf ein Verfahren zur oralen Empfängnisverhütung, bei der die pathologischen Nebenwirkungen vermieden, bzw. reduziert werden. Die Kammer urteilte, dass die Prävention der Sekundareffekte, die durch die Angabe der Wirkstoffkonzentration im Anspruch 1 verankert ist, untrennbar mit der Durchführung der an sich nicht therapeutischen Empfängnisverhütung verknüpft ist. In diesem Fall lässt sich die Ausnahme von der Patentierbarkeit gemäß Art. 53 c) EPÜ auch nicht durch die Beschränkung auf eine "nicht-therapeutische Verwendung" aufheben.
Gemäß T 158/13 ist es unmöglich, zwischen einer therapeutischen und einer nicht therapeutischen Verwendung der stimulierenden Duftstoffzusammensetzung zu unterscheiden, weil die Verabreichungsform der Zusammensetzung bei der therapeutischen und der nicht therapeutischen Verwendung dieselbe ist. Die Schläfrigkeit oder die Inaktivität kann im täglichen Leben nicht nur ein physiologischer Zustand sein, sondern kann auch auf einem pathologischen Zustand beruhen. Ohne klare und eindeutige Unterscheidung zwischen dem physiologischen und dem pathologischen Charakter eines mentalen Zustands einer Person ist eine klare Unterscheidung zwischen der therapeutischen und der nicht therapeutischen Verwendung ebenfalls nicht möglich.