3. Für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung maßgebende Teile der Anmeldung
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bezieht sich das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf die in den Ansprüchen definierte Erfindung und insbesondere auf die Kombination der strukturellen und funktionellen Merkmale der beanspruchten Erfindung. Es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, dieses Erfordernis auf andere technische Aspekte auszudehnen, die möglicherweise mit der Erfindung zusammenhängen (wie etwa zu erzielende Ergebnisse oder technische Wirkungen), die in der Beschreibung erwähnt, aber für den Anspruchsgegenstand nicht erforderlich sind (Verweis auf diesen Grundsatz z. B. in T 1900/17).
Ein Einwand wegen mangelnder Offenbarung gemäß Art. 83 EPÜ kann nicht damit begründet werden, dass die Anmeldung es dem Fachmann nicht ermöglicht, eine nicht beanspruchte technische Wirkung zu erzielen (T 2001/12, mit Verweis vor allem auf G 1/03, ABl. 2004, 413, aber auch T 1079/08, T 939/92 und T 260/98). Andere Entscheidungen, in denen dieser Grundsatz formuliert wird: T 1744/14 mit Verweis auf T 1845/14, Nr. 9.8 der Gründe, T 1311/15, Nr. 5.2 der Gründe, und T 2001/12, Nr. 3.4 der Gründe; T 1900/17, Nr. 2.5 der Gründe; T 1943/15; T 1502/16 mit Verweis auf T 862/11.
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine technische Wirkung bei der Beurteilung der Ausführbarkeit nur dann zu berücksichtigen, wenn sie explizit beansprucht wird. Wird die Wirkung nicht beansprucht, ist die Frage, ob die Wirkung tatsächlich erreicht wird, für die Beurteilung der Ausführbarkeit nicht relevant. In diesem Fall wird diese Frage gegebenenfalls bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit bedeutsam, nämlich bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe (T 1216/12 mit Verweis auf T 862/11 und T 2001/12).
In T 1311/15 haben die Beteiligten nicht bestritten, dass der Wortlaut von Anspruch 1 keine Flammschutzanforderung enthält. Allerdings war ebenfalls unbestritten, dass die Erfindung darauf abzielt, nicht entflammbare Kühlmittelzusammensetzungen zur Verfügung zu stellen. Es stellte sich die Frage, ob die beabsichtigte Wirkung des beanspruchten Gegenstands bei der Prüfung des Einspruchsgrunds nach Art. 100 b) EPÜ zu berücksichtigen sei (diese Frage entschied die Kammer unter Verweis auf die vorgenannte ständige Rechtsprechung).
In T 2001/12 wurde die Unterscheidung zwischen den Erfordernissen der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ), der Klarheit der Ansprüche (Art. 84 EPÜ) und der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) behandelt. Hinsichtlich der Bedeutung des technischen Effekts für Art. 83 EPÜ wurde in T 862/11 mit Verweis auf T 2001/12 Folgendes ausgeführt: Zu unterscheiden ist zwischen a) dem Begutachten des Effekts gemäß Art. 83 EPÜ und b) dem Begutachten des Effekts gemäß Art. 56 EPÜ (Analyse dieser Entscheidungen in T 2210/16). Zur Beziehung zwischen Einwänden nach Art. 56 EPÜ und nach Art. 83 EPÜ s. auch T 1099/16 (Verwendung eines bekannten Inhaltsstoffs, der eine neue Funktion erfüllt), wo in Anwendung von G 1/03 wie folgt entschieden wird: wird ein Effekt in einem Anspruch ausgedrückt [wie im vorliegenden Fall, Haftvermittler], so ist die Offenbarung unzureichend [war im vorliegenden Fall kein Einspruchsgrund]. Andernfalls, d. h. wenn der Effekt nicht in einem Anspruch ausgedrückt wird, sondern Teil der zu lösenden Aufgabe ist, fehlt es an erfinderischer Tätigkeit.
Auch in T 206/13 wurde auf T 2001/12 Bezug genommen: Die Prüfungsabteilung hatte bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung der Ansprüche 1 und 11 auf technische Aspekte abgestellt, die ihrer Ansicht nach nicht ausreichend offenbart waren. Die Kammer wies darauf hin, dass diese technischen Aspekte in den Ansprüchen 1 und 11 nicht definiert und somit bei der Beurteilung der in diesen Ansprüchen definierten Erfindung nach Art. 83 EPÜ nicht in Betracht zu ziehen waren. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung bezieht sich auf die in den Ansprüchen definierte Erfindung und insbesondere auf die Kombination der strukturellen und funktionellen Merkmale der beanspruchten Erfindung. Es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, dieses Erfordernis auf andere technische Aspekte auszudehnen, die möglicherweise mit der Erfindung zusammenhängen (insbesondere in der Beschreibung erwähnte technische Merkmale oder Wirkungen), aber für den Anspruchsgegenstand nicht zwingend erforderlich sind. Für die Beurteilung anderer Erfordernisse des EPÜ (insbesondere Art. 84 und 56 EPÜ) können diese technischen Aspekte jedoch relevant sein.
In T 1744/14 waren die im angefochtenen Patent dargelegte technische Aufgabe und die ihr zugrunde liegende(n) Wirkung(en) nicht Teil des Anspruchs 1. Die Kammer erkannte an, dass z. B. in T 593/09 die dem Patent zufolge subjektiv zu lösende Aufgabe, obgleich nicht Teil der Ansprüche, bei der Entscheidung über die ausreichende Offenbarung berücksichtigt worden sei. In jenem Fall lautete die Frage aber nicht, ob die beanspruchten Erzeugnisse die technische Aufgabe tatsächlich objektiv lösten, also die im Patent benannten technischen Wirkungen aufwiesen, sondern vielmehr, ob die anspruchsgemäßen Erzeugnisse in Anbetracht der ungenau definierten Parameter im Anspruch vom Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand hätten ausgewählt werden können, sodass eine Lösung für die im Patent dargelegte angebliche Aufgabe bereitgestellt worden wäre. In der Sache T 1744/14 sei der Fachmann jedoch in der Lage, das in Anspruch 1 definierte Polymorph II ohne unzumutbaren Aufwand zu erzeugen. Somit unterscheide sich die Sachlage in T 1744/14 von derjenigen in T 593/09.
In T 1469/16 vertrat die Prüfungsabteilung die Auffassung, dass der Hauptantrag nur dann den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ genügt hätte, wenn der Fachmann durch die Ausführung der Erfindung die Wirkung einer verbesserten Kodierungsleistung erzielt hätte. Die Kammer befand jedoch, dass weder in Anspruch 1 noch in einem der anderen Ansprüche des Hauptantrags eine solche Wirkung angegeben worden sei. Werde die Wirkung nicht im gesamten beanspruchten Bereich erzielt, stelle dies also kein Problem nach Art. 83 EPÜ dar, könne sich aber auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auswirken (s. T 939/92, ABl. 1996, 309; G 1/03, ABl. 2004, 413 und T 862/11).