3.2.4 Offenkundige Vorbenutzung
Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist (Art. 54 (2) EPÜ). Benutzungshandlungen können darin bestehen, dass ein Erzeugnis hergestellt, angeboten, in Verkehr gebracht oder gebraucht wird oder dass ein Verfahren oder seine Verwendung angeboten oder in Verkehr gebracht oder das Verfahren angewendet wird. Das Inverkehrbringen kann z. B. durch Verkauf oder Tausch erfolgen (s. dazu Richtlinien G‑IV, 7.1 – Stand März 2022).
Eine offenkundige Vorbenutzung oder eine anderweitige Zugänglichmachung werden typischerweise im Einspruchsverfahren geltend gemacht. Um festzustellen, ob eine Erfindung der Öffentlichkeit durch Vorbenutzung zugänglich gemacht wurde, müssen nach ständiger Rechtsprechung (s. z. B. T 194/86; T 232/89; T 78/90: T 600/90, T 602/91; T 522/94, ABl. 1998, 421; T 927/98; T 805/05) folgende Sachverhalte geklärt werden: i) der Zeitpunkt der Benutzung (d. h. wann die Benutzungshandlung stattfand), ii) der Gegenstand der Benutzung (d. h. was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde) und iii) die Umstände der Benutzungshandlung (d. h. wo, wie und durch wen der Gegenstand der Benutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde).
Vgl. Kapitel IV.C.2.2.8 i) "Behauptete offenkundige Vorbenutzung"; V.A.5.13.6 "Offenkundige Vorbenutzung"; s. auch verschiedene Abschnitte in Kapitel III.G. "Beweisrecht".
Auch wenn Vorbenutzungen im Kapitel über die Neuheit, genauer gesagt im Kapitel über die Bestimmung des Stands der Technik abgehandelt werden, ist zu bedenken, dass die Frage des Stands der Technik nicht nur für die Neuheit, sondern ebenso für die erfinderische Tätigkeit relevant ist (s. z. B. T 1464/05 – öffentliche Vorbenutzung als nächstliegender Stand der Technik; T 23/11; T 2170/12).
Nach Art. 114 EPÜ besteht für das EPA nur eine beschränkte Pflicht, eine offenkundige Vorbenutzung von Amts wegen zu ermitteln (T 129/88 (ABl. 1993, 598) und T 34/94, s. hierzu Kapitel V.A.3.3. "Sachverhaltsprüfung – Anwendungsrahmen von Artikel 114 EPÜ im Beschwerdeverfahren").