4.6. Spätes Vorbringen neuer Argumente
Die Große Beschwerdekammer definierte "neue Argumente" in ihrer Stellungnahme G 4/92 (ABl. 1994, 149) nicht als ein neues Vorbringen als solches, sondern als eine Untermauerung der Tatsachen und Rechtsgründe (zitiert z. B. in T 131/01, ABl. 2003, 115). Nach T 604/01 sind unter Tatsachen im rechtlichen Sinne die ohne Berücksichtigung ihrer rechtlichen Auswirkungen zu betrachtenden Umstände und Vorfälle eines Falles zu verstehen. In T 926/07 (unter Verweis auf T 92/92) führte die Kammer aus, dass Tatsachen behauptete Sachverhalte sind, die ggf. durch Beweismittel zu belegen sind. Argumente sind demgegenüber diejenigen Ausführungen, die sich bei Anwendung des Rechts auf die rechtzeitig vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ergeben. Dementsprechend sind Argumente, denen rechtzeitig vorgebrachte Tatsachen zugrunde liegen, in jeder Phase des Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahrens zuzulassen. S. auch Kapitel V.A.4.2.2 l) bis V.A.4.2.2 n). zum späten Vorbringen neuer Argumente im Beschwerdeverfahren.
Auch in T 861/93 stellte die Kammer fest, dass es sich bei von einer Partei zur Stützung ihrer Argumente herangezogenen Entscheidungen niemals um Entgegenhaltungen handelt, die unter den Voraussetzungen des Art. 114 (2) EPÜ 1973 als verspätet zurückgewiesen werden können. Entscheidungen, auf die eine Partei zur Stützung ihrer Argumente verweist, sind als Teil dieser Argumente anzusehen und dürfen nicht als verspätet zurückgewiesen werden (angezweifelt in T 1914/12).
In T 131/01 (ABl. 2003, 115) befand die Kammer, dass es sich bei der Erläuterung des Einsprechenden, warum der Fachmann seiner Ansicht nach den beanspruchten Gegenstand in naheliegender Weise aus einer bestimmten DE-Entgegenhaltung hätte herleiten können, allenfalls um ein neues Argument handelte. Diese Entgegenhaltung war nämlich in der Einspruchsschrift zitiert und analysiert worden, sodass ihr Inhalt keine neue Tatsache darstellte. Ebenso vertrat die Kammer in T 2238/15 die Auffassung, der neu vorgebrachte Einwand zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit stelle allenfalls ein neues Argument gegenüber bereits im Verfahren befindlichen Dokumenten dar. Der wesentliche Inhalt der Entgegenhaltungen MB 3 und MB 8 in Bezug auf den erteilten Anspruch 1 und auch in Bezug auf die zusätzlichen Merkmale gemäß Hilfsantrag 1 sei bereits im Einspruchsschriftsatz analysiert worden, sodass der Inhalt der Entgegenhaltungen keine neue Tatsache darstelle.
Zum allgemeinen Fachwissen befand die Kammer in T 1448/09, dass eine Bezugnahme auf das allgemeine Fachwissen als Argument vorgebracht werden könne, die Existenz dieses Fachwissens aber eine Tatfrage sei.
Nach T 1553/07 zählen zu den Argumenten auch Ausführungen, die sich gegen bereits vorgebrachte Tatsachen (einschließlich etwaiger Beweismittel) richten. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung legte der Patentinhaber dar, aus welchen Gründen die vom Einsprechenden behauptete offenkundige Vorbenutzung seiner Ansicht nach nicht durch die verspätet eingereichten Beweismittel lückenlos bewiesen sei. In dem Bestreiten der vom Einsprechenden behaupteten Vorbenutzung sah die Kammer kein Vorbringen neuer Tatsachen.
In T 710/15 hatte der Einsprechende in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung einen neuen Einwand nach Art. 100 c) EPÜ erhoben. Der entsprechende Einspruchsgrund war vorher schon zulässig vorgebracht worden. Die Kammer befand, dass der neue Einwand im vorliegenden Fall keine neuen Tatsachen oder Beweismittel einführte, sondern nur ein neues Argument.
Gemäß der Kammer in T 1914/12 kann eine "Tatsache" als ein (angebliches) Faktum oder als ein Umstand verstanden werden, auf den ein Beteiligter sein Vorbringen stützt, während ein "Argument" eine Aussage bezeichnet, die ein Beteiligter auf eine oder mehrere Tatsachen gründet und die sein Vorbringen stützt. Die Kammer nennt als Beispiel eine Situation, in der der Einsprechende seinen Einwand der mangelnden Neuheit des Anspruchs 1 auf die Offenbarung in Absatz [0017] der Entgegenhaltung D1 stützt: der Einwand ("ground") wäre also die mangelnde Neuheit (d. h. die Behauptung, dass der Gegenstand des Anspruchs vom Stand der Technik umfasst ist); dieser Einwand stützt sich auf das Argument, dass der Gegenstand des Anspruchs in Absatz [0017] der Entgegenhaltung D1 offenbart ist; die Tatsache, auf der das Argument beruht ist der Wortlaut dieser Entgegenhaltung darstellt; eine Übersetzung oder eine Kopie dieser Entgegenhaltung wird als Beweis(mittel) vorgelegt. Die Kammer weist im Übrigen darauf hin, dass in der Rechtsprechung manchmal zwischen "Argument" und "Argumentationslinie" unterschieden wird, ist aber der Meinung, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage für eine unterschiedliche Behandlung eines einzelnen Arguments und einer Reihe von Argumenten bietet.
In T 2053/13 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) seine von der Lehre des Dokuments D3 ausgehende Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erstmals am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt. Das Dokument D3 selbst hatte er zusammen mit der Einspruchsschrift eingereicht, allerdings nicht als nächstliegenden Stand der Technik, sondern nur als Erwähnung in einer Fußnote zu einer untergeordneten Frage. Die Kammer verwies darauf, dass Argumente laut G 4/92 (ABl. 1994, 149) eine Untermauerung bereits vorgebrachter Tatsachen und Rechtsgründe sind. Nach Auffassung der Kammer hatte der Beschwerdeführer nicht einfach ein zusätzliches Argument zur Untermauerung einer bereits bekannten Argumentation in einem feststehenden faktischen Kontext vorgelegt, sondern seinen Sachvortrag geändert. Mit der fraglichen Eingabe wurde ausgehend von der Behauptung, das Dokument D3 sei ein erfolgversprechendes Sprungbrett zur beanspruchten Erfindung, eine gänzlich neue Argumentation eingeführt. Somit bezog sich die Eingabe des Beschwerdeführers auf einen neuen behaupteten Sachverhalt. Die Einreichung eines Beweismittels bedeutet nicht, dass jeder potenziell daraus herleitbare behauptete Sachverhalt oder Einwand auch zum Verfahren eingeführt wird.
T 1875/15, wo es um die Zulassung eines erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhobenen Einwands nach Art. 100 c) EPÜ ging, bestätigte die Kammer die Feststellung in T 1914/12, dass eine Kammer grundsätzlich kein Ermessen hat, verspätet vorgebrachte Argumente nicht zuzulassen. Zugleich stellte sie jedoch fest, dass es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Kammer liege, einen verspätet vorgebrachten Einwand nicht zum Verfahren zuzulassen, wenn dieser neue Tatsachenbehauptungen enthält (s. auch J 14/19; Näheres s. Kapitel V.A.4.2.2 l) bis V.A.4.2.2 n)).