D. Erfinderische Tätigkeit
Bei der Beurteilung der Frage, ob die beanspruchte Erfindung angesichts des nächstliegenden Stands der Technik und der objektiven technischen Aufgabe für den Fachmann naheliegend gewesen wäre, wenden die Beschwerdekammern den "could would approach" an (s. dazu auch Richtlinien G‑VII, 5.3 – Stand März 2022). Danach ist es nicht ausschlaggebend, ob ein Fachmann den Gegenstand des Streitpatents hätte ausführen können, sondern vielmehr, ob er es in der Erwartung auf eine Lösung der zugrunde liegenden technischen Aufgabe bzw. in der Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch getan hätte (T 2/83, ABl. 1984, 265; T 90/84; T 7/86, ABl. 1988, 381; T 200/94; T 885/97, T 1148/15). Bei der Beurteilung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand eine naheliegende Lösung für eine objektive technische Aufgabe darstellt, ist danach zu fragen, ob der Fachmann in der Erwartung, die Aufgabe zu lösen, die Lehre der nächstliegenden Entgegenhaltung angesichts anderer Lehren des Stands der Technik so abgewandelt hätte, dass er zu der beanspruchten Erfindung gelangt wäre (T 1014/07, T 867/13). Es kommt also nicht darauf an, ob der Fachmann durch Modifikation des Stands der Technik zur Erfindung hätte gelangen können; zu fragen ist vielmehr, ob er in Erwartung der tatsächlich erzielten Vorteile, d. h. im Lichte der bestehenden technischen Aufgabe, so vorgegangen wäre, weil dem Stand der Technik Anregungen für die Erfindung zu entnehmen waren (T 219/87, T 455/94, T 414/98).
In T 1014/07 stellte die Kammer fest, dass danach zu fragen ist, ob der Fachmann eine bestimmte Änderung vorgenommen hätte – und nicht, ob er sie hätte vornehmen können – und dass zur Beantwortung dieser Frage nach schlüssigen, Gründen auf der Grundlage von konkreten Beweisen zu suchen ist, die den Fachmann bewogen hätten, auf die eine bzw. auf die andere Weise vorzugehen. In T 1045/12 befand die Kammer (unter Verweis auf T 1014/07), dass ihre Entscheidung, da sie auf die Vorveröffentlichungen D4 und D3 gestützt war, auf "konkreten Beweisen" beruhte.
Wenn eine Erfindung erst einmal gemacht worden sei, lasse sich häufig aufzeigen, dass ein Fachmann durch Kombination verschiedener Teile des Stands der Technik zu ihr hätte gelangen können; solche Überlegungen müssten aber außer Acht gelassen werden, da sie das Ergebnis einer Ex-post-facto-Analyse seien (T 564/89).
Nach T 939/92 (ABl. 1996, 309) hängt die Antwort auf die Frage, was ein Fachmann im Lichte des Stands der Technik getan hätte, in hohem Maße davon ab, welches technische Ergebnis er sich zum Ziel gesetzt hatte bzw. welches Ergebnis er erreichen wollte. Mit anderen Worten, es ist nicht davon auszugehen, dass der Durchschnittsfachmann etwas ohne konkreten technischen Grund und aus reiner Neugier tut, sondern dass er einen bestimmten technischen Zweck verfolgt (s. auch T 28/20).
In T 867/13 führte die Kammer Folgendes aus: Was der mit der objektiven technischen Aufgabe betraute Fachmann ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik tun oder nicht tun würde, hängt nicht nur von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik ab, sondern auch vom Stand der Technik auf dem betreffenden technischen Gebiet.
In T 1126/09 wies die Kammer darauf hin, dass nach dem "could/would approach" im Einzelfall bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen ist, inwieweit der Fachmann, ausgehend von dem nächstkommenden Stand der Technik, und unter Berücksichtigung der Wirkung der Unterscheidungsmerkmale gegenüber diesem Stand der Technik bzw. der daraus ableitbaren objektiven Aufgabe, eine Veranlassung dafür hatte, weiteren Stand der Technik heranzuziehen und dessen Lehre auf das Verfahren/ die Vorrichtung des nächstkommenden Standes der Technik anzuwenden, oder, anders ausgedrückt, ob ein auf eine Kombination der Lehren der angesprochenen Entgegenhaltungen hinweisender Anhaltspunkt ersichtlich ist.
Die technische Möglichkeit und das Fehlen von Hindernissen sind nur notwendige Voraussetzungen für die Ausführbarkeit, sind aber nicht hinreichend, um das für den Fachmann tatsächlich Realisierbare nahezulegen (T 61/90). Die Tatsache, dass der Fachmann die einem technischen Mittel innewohnenden Eigenschaften kannte, sodass er theoretisch die Möglichkeit hatte, dieses Mittel in einer herkömmlichen Vorrichtung einzusetzen, besagt lediglich, dass die Möglichkeit bestand, das technische Mittel auf solche Weise zu verwenden, d. h., dass der Fachmann es hätte verwenden können. Soll jedoch aufgezeigt werden, dass diese theoretische Möglichkeit auch eine technische Maßnahme war, deren Anwendung für den Fachmann naheliegend war, so muss gezeigt werden, dass im Stand der Technik ein Anhaltspunkt dafür erkennbar war, das bekannte Mittel und die herkömmliche Vorrichtung zur Erreichung des angestrebten technischen Ziels miteinander zu kombinieren, d. h., dass der Fachmann eine solche Kombination tatsächlich vorgenommen hätte. Ob ein solcher technischer Beweggrund vorliegt, hängt von den bekannten Eigenschaften nicht nur des Mittels, sondern auch der Vorrichtung ab (T 203/93, T 280/95). Dass der Fachmann theoretisch die Möglichkeit hatte die Erfindung zu realisieren bedeutet nur, dass er die notwendigen Mittel hätte verwenden können. Soll jedoch aufgezeigt werden, dass er dies tatsächlich gemacht hätte, muss im Stand der Technik ein Anhaltspunkt erkennbar sein, der den Fachmann veranlasst hätte die Mittel auch so einzusetzen (T 1317/08).
In T 905/17 hatte die Einspruchsabteilung eine Argumentationslinie zurückgewiesen, da es im Dokument D4 keinen "Hinweis darauf gibt, die Auskleidung (3) wegzulassen und anschließend im Stand der Technik nach geeigneten Materialien für die dann der Korrosion ausgesetzten Druckbewehrungen (5, 6) zu suchen". Die Kammer fand diese Begründung nicht überzeugend. Der Fachmann, der von einem Element aus dem Stand der Technik ausgeht und ein bestimmtes Problem zu lösen hat, braucht nicht unbedingt einen mit diesem Element zusammenhängenden "Hinweis". Sonst wäre es nie möglich, ausgehend von einem offenkundig vorbenutztem Objekt, das in der Regel von keinerlei Hinweisen begleitet ist, mangelnde erfinderische Tätigkeit festzustellen. In Ermangelung eines Hinweises könnte der Fachmann ausgehend von seinem allgemeinen Fachwissen oder von Dokumenten aus dem Stand der Technik, die ausdrücklich eine Lösung für die sich stellende Aufgabe lehren, trotzdem die zu dem beanspruchten Gegenstand führenden Schritte ergreifen.
In T 894/19 erklärte die Kammer, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Merkmalkonfiguration bloß eine naheliegende und somit nicht erfinderische Auswahl aus einer Reihe bekannter und gleichartiger Möglichkeiten darstellt, der "could-would approach" in der Regel nicht anwendbar ist (s. auch T 1968/08 und T 12/07). Zur Betrachtung aller – gleichermaßen naheliegenden – Lösungen reicht es ihrer Auffassung nach aus, dass der Fachmann die betreffenden Lösungen ohne erfinderisches Zutun erkennen kann. Ein gesonderter Hinweis ist dann nicht erforderlich.
- T 555/18
Catchword:
If the only feature that distinguishes a claim from the closest prior art is a range of an unusual parameter and it is concluded that it would be obvious for the skilled person to solve the underlying technical problem in ways that can be presumed to inherently lead to values within or close to the claimed range, it is the proprietor who should bear the burden of proof to demonstrate that implementing such solutions would not lead to the claimed parametrical range.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache