7. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
In T 431/96 hätte der Fachmann, der die Erfindung nacharbeiten wollte, monoklonale Antikörper in Routineverfahren gewinnen und einzeln testen müssen. Dies mochte zwar mit einigem Arbeits- und Zeitaufwand verbunden sein, war jedoch nichts Außergewöhnliches, da es sich bei den Techniken zur Herstellung und Selektion von Hybridomen am Prioritätstag des Streitpatents um gängige Routinetechniken handelte.
Nach Auffassung der Kammer in T 601/05 vom 2. Dezember 2009 date: 2009-12-02 war die entscheidende Frage, ob das Patent die Herstellung von menschlichen monoklonalen Antikörpern ermöglichte, die wie beansprucht mit hoher Affinität an lösliches TNF binden, d. h., ob der Fachmann die Erfindung im Schutzbereich des Anspruchs praktisch umsetzen konnte oder nicht (im Anschluss an T 792/00). Nach den der Kammer vorliegenden Beweisen war dies nicht der Fall.
In T 1466/05 stellte sich die Frage, ob die Verfügbarkeit eines einen spezifischen Antikörper produzierenden Hybridoms in Verbindung mit einer allgemeinen Beschreibung des von diesem Antikörper erkannten Epitops den Fachmann in die Lage versetzt, weitere Antikörper mit der gleichen Spezifität zu gewinnen. Die Kammer stellte fest, dass ähnliche Fragen bereits Gegenstand verschiedener Verfahren vor den Beschwerdekammern gewesen seien und die einzelnen Beschwerdekammern diese Fragen je nach den konkreten Umständen unterschiedlich beantwortet hätten (T 510/94, T 513/94, T 349/91, T 716/01).
In T 1466/05 war der Anspruch nicht auf monoklonale Antikörper beschränkt, die durch Bezugnahme auf das hinterlegte Hybridom definiert waren. Da die Anmeldung kein spezifisches Antigen zur Gewinnung weiterer der beanspruchten Antikörper offenbare, müsste der Fachmann, der solche Antikörper herstellen wollte, nach Auffassung der Kammer eine Forschungsreihe durchführen, der Anmeldung aber keinerlei Lehre darüber entnehmen könnte, wie sich die gewünschte Spezifität erzielen lässt, was einen unzumutbaren Aufwand darstellte (in diesem Zusammenhang zitiert in T 760/12).
Hinsichtlich der Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung (Anspruch 6 in der "schweizerischen" Anspruchsform, Anspruch 7 in der Form zweckgebundener Erzeugnisansprüche) in T 760/12 wurde die technische Wirkung (d. h. die therapeutische Wirkung) im Anspruch angegeben. Ist die technische Wirkung im Anspruch angegeben, ist es eine Frage der ausreichenden Offenbarung, ob diese Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich tatsächlich erzielt wird (G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe). Folglich muss die Anmeldung nach Art. 83 EPÜ offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, wenn dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (T 609/02, Nr. 9 der Gründe). Die Kammer kam zu dem Schluss, dass im Patent nicht hinreichend offenbart wurde, dass ein einzelner anspruchsgemäßer monoklonaler Antikörper potenziell die beanspruchte therapeutische Wirkung haben kann.
In T 405/06 war der fragliche Anspruch auf Immunglobuline mit bestimmten vorgegebenen Merkmalen gerichtet. Es stellte sich die Frage, ob ein Fachmann der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung am Anmeldetag eine so deutliche und vollständige Offenbarung der genauen Struktur eines solchen Immunglobulins entnommen hätte, dass es ihm möglich gewesen wäre, das Immunglobulin im gesamten, breiten Bereich des Anspruchs herzustellen. Obwohl der Anspruch nicht auf Immunglobuline von Kameliden beschränkt war, handelten der experimentelle Teil der Beschreibung als Ganzes und die dazugehörigen Zeichnungen ausschließlich von Kameliden-Immunglobulinen, und auch der allgemeine Teil der Beschreibung enthielt keine vollständige Offenbarung irgendeines Immunglobulins von Nicht-Kameliden. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ 1973 waren somit nicht erfüllt, da es dem Fachmann überlassen blieb, mühsam herauszufinden, wie die auf Kameliden-Immunglobuline bezogene Lehre auf Erzeugnisse anderen Ursprungs (z. B. menschliche Immunglobuline), die in den breiten Schutzbereich des Anspruchs fielen, ausgeweitet werden konnte.
Die Anmeldung, die Gegenstand des Verfahrens in T 433/07 war, betraf breitreaktive opsonische Antikörper, die mit gemeinsamen Antigenen von Staphylococcus reagierten. Nach Auffassung der Kammer war die Erfindung unzureichend offenbart; die Anmeldung offenbarte weder Serotyp-kreuzreaktive monoklonale Antikörper noch die Isolierung eines Antigens, das mit der anspruchsgemäß erforderlichen Serotyp-kreuzprotektiven Reaktion assoziiert ist. Umfasst eine europäische Patentanmeldung einen Anspruch, der sich auf ein Herstellungsverfahren bezieht, so muss sie dem Fachmann die Mittel zur Herstellung des gewünschten Erzeugnisses zur Verfügung stellen. Ist dies nicht der Fall, kann dieser Mangel nicht dadurch behoben werden, dass dem Fachmann genau mitgeteilt wird, wie das gewünschte Erzeugnis aussehen muss und mit Hilfe welcher Screening-Kriterien es gefunden werden kann.
In T 617/07 betraf der Anspruch monoklonale Antikörper sowie synthetische und biotechnologische Derivate davon, die durch strukturelle und funktionelle Merkmale definiert waren. Die Kammer urteilte, dass es dem Fachmann mit Hilfe seines allgemeinen Fachwissens möglich wäre, auf unter Umständen zeitraubende, aber einfache Weise Antikörper-Varianten bereitzustellen, die die im Anspruch angegebenen funktionellen Erfordernisse erfüllten. Sicherlich schloss die strukturelle Definition im Anspruch Antikörper ein, welche die gewünschte Funktion nicht aufwiesen, doch wäre es dem Fachmann, der die Erfindung nacharbeiten wollte, aufgrund seines Wissens möglich, nicht-funktionelle Varianten zu vermeiden. Weil der Fachmann wusste, wie er von einem bestimmten bekannten Antikörper ausgehend Antikörper mit der gewünschten Funktion erhalten konnte, war er nicht in einer Situation, in der er mühsam nicht-funktionelle Varianten hätte aussondern müssen.
In T 386/08 betraf das Patent humanisierte Antikörper mit Framework-Sequenzen. Es offenbarte nicht nur ein Beispiel, sondern viele Beispiele. Die Kammer wies darauf hin, dass der Begriff der im gesamten beanspruchten Bereich ausreichenden Offenbarung nicht bedeutet, dass eine Offenbarung nur dann als ausreichend anzusehen ist, wenn es nachweislich möglich ist, alle nur denkbaren Ausführungsformen eines Anspruchs zu erhalten; s. G 1/03 (ABl. 2004, 413). Es kann Situationen geben, in denen die Patentschrift genügend Informationen zu den Kriterien enthält, mit deren Hilfe sich im beanspruchten Bereich mit zumutbarem Aufwand geeignete Alternativen ("Varianten") finden lassen. Unter diesen Umständen ist es für die ausreichende Offenbarung unerheblich, dass einige unter den Anspruch fallende Varianten am Prioritätstag nicht verfügbar waren. Für ein Beispiel, bei dem dies nicht der Fall war, s. T 601/05 date: 2009-12-02. Die vorliegende Situation unterschied sich hiervon jedoch dadurch, dass das Patent eine ganze Anzahl geeigneter Alternativen beschrieb und dass es sich bei den angeblich nicht erzielbaren Varianten um "hypothetische" Varianten handelte. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ waren erfüllt.
Die Entscheidung T 941/16 (Anti-PSMA-Antikörper) betraf einen Verstoß gegen Art. 83 EPÜ. Die Kammer entschied, dass ohne Beispiele für einen beanspruchten Antikörper/ein beanspruchtes Fragment die allgemeinen Informationen in der Patentanmeldung und das allgemeine Fachwissen zusammengenommen nicht ausreichten, um die erforderlichen Informationen bereitzustellen, damit der Fachmann im Wesentlichen alle beanspruchten Antikörper/Fragmente zuverlässig erzeugen kann, die die funktionellen Erfordernisse des Anspruchs erfüllen. Für bestimmte Kombinationen von CDRs sei es nicht glaubhaft, dass ein humanisierter Antikörper/humanisiertes Fragment mit den in Anspruch 1 definierten Merkmalen erzeugt würde. Die problemlose Ausführung der Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich wäre für den Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand nicht möglich. Schließlich befasste sich die Kammer unter Bezugnahme auf G 1/03 (ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe) mit der Behauptung des Beschwerdeführers (Anmelders), Patentanmeldungen auf dem Gebiet der Biochemie sollten nicht schlechter behandelt werden als auf den anderen Gebieten der klassischen Chemie (Vorliegen nicht funktionsfähiger Ausführungsformen in einer generischen chemischen Formel).
Die Fassung der Prüfungsrichtlinien vom März 2022 enthält einen 2021 eingefügten neuen Abschnitt über Antikörper (siehe G‑II, 5.6). Was Ansprüche anbelangt, die auf durch funktionelle Eigenschaften definierte Antikörper (d. h. definiert durch eine bestimmte Fähigkeit) gerichtet sind, besagen die Prüfungsrichtlinien in Abschnitt G‑II, 5.6.1.3: "Wird ein Antikörper ausschließlich durch funktionale Eigenschaften definiert, so ist sorgfältig zu prüfen, ob die Anmeldung eine ausreichende Offenbarung für den gesamten beanspruchten Schutzbereich enthält". In den folgenden Entscheidungen erachteten die Kammern Art. 83 EPÜ nicht für erfüllt: T 1466/05, T 601/05 date: 2009-12-02, T 1389/13. Beispiele, in denen auf ausreichende Offenbarung erkannt wurde, sind T 2045/09 und T 845/19 (wo der Antikörper nach einer Beschränkung durch strukturelle und funktionelle Merkmale definiert war).
Weitere Entscheidung zu Antikörpern: s. T 32/17 (Definition eines Antikörpers durch ein hinterlegtes Hybridom – R. 31 EPÜ).
Berücksichtigung nachveröffentlichter Dokumente durch den Einsprechenden
In T 1872/16 (Anspruch 1 wurde als zweckgebundener Erzeugnisanspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ formuliert) musste die Eignung eines im Anspruch definierten IL-13-Antikörpers zur Behandlung bestimmter Formen von Asthma beurteilt werden. Die Anmeldung enthielt keine Versuche zur Feststellung der Eignung der Antikörper und offenbarten keinen Zusammenhang zwischen IL-13 und den im Anspruch genannten spezifischen Formen von Asthma. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) bestritt, dass die Beschwerdegegner (Einsprechenden) nachveröffentlichte Dokumente (d. h. D23, nachveröffentlichte klinische Studie) verwenden dürften, um einem beanspruchten Stoff die Eignung für eine beanspruchte therapeutische Anwendung abzusprechen, denn es dürften nur zum wirksamen Datum des Patents verfügbare Dokumente berücksichtigt werden. Die Kammer erklärte, in der Rechtsprechung habe sich der Grundsatz herausgebildet, dass ernsthafte Zweifel durch nachprüfbare Fakten untermauert werden müssten. Den Einsprechenden stehe es frei, die ernsthaften Zweifel mit Beweismitteln ihrer Wahl zu untermauern. Dies gelte auch für den Zeitpunkt, zu dem die Beweismittel entstanden. Es könnte Fälle geben, in denen die ernsthaften Zweifel nur durch Tatsachen untermauert werden könnten, die nach dem wirksamen Datum des Patents erlangt wurden (s. T 219/01 in Bezug auf einen Anspruch auf medizinische Verwendung, unzureichende Offenbarung auf der Grundlage einer nachveröffentlichten klinischen Studie). Die Beschwerdegegner konnten ihre Argumente auf Dokument D23 stützen. Da das Patent keine Beispiele für Antikörper enthielt, die nachweislich zur Behandlung von schwerem Asthma geeignet waren, genügte es nach Auffassung der Kammer, dass der Beschwerdegegner auf eine nicht geeignete Ausführungsform hinwies. Auf der Grundlage von D23 hätte der Fachmann ernsthafte Zweifel an der Eignung des Antikörpers zur Behandlung von schwerem Asthma gehabt. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ wurden nicht erfüllt.
- T 424/21
Catchword:
1. If the deletion of dependent claims after notification of a summons to oral proceedings enhances procedural economy by clearly overcoming existing objections without giving rise to any new issues this might constitute cogent reasons justifying exceptional circumstances in the sense of Article 13(2) RPBA 2020.
2. For a first medical use of a substance or composition according to Article 54(4) EPC to be sufficiently disclosed it is not required to show the suitability for each and every disease, but it usually suffices to show that at least one medical use is credibly achieved.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022