6.6. Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
Nach T 954/05 darf die strukturelle Definition einer chemischen Verbindung in einem Anspruch nicht durch die einfache Angabe eines angeblich die vollständige chemische Struktur beschreibenden Merkmals und eines funktionellen Merkmals ersetzt werden, wenn das erste Merkmal für eine unbestimmte Anzahl von Verbindungen zutrifft und es keine an dieses Merkmal anknüpfende systematische Auswahlregel gibt, mit der der Fachmann die beanspruchten Verbindungen bestimmen kann, und das Vorliegen des funktionellen Merkmals in der unbestimmten Anzahl an für diese Funktion infrage kommenden Verbindungen sich nicht feststellen lässt, weil eine Lehre über einen entsprechenden Standardversuch zum Nachweis seines Vorliegens oder Fehlens nicht vermittelt wird.
In T 544/12 bestätigte die Kammer, dass die Definition einer Gruppe von Verbindungen in einem Anspruch durch strukturelle und funktionelle Merkmale nach Art. 83 EPÜ generell akzeptabel ist, solange der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand aus der Fülle von Verbindungen, die im Anspruch durch strukturelle Merkmale definiert sind, diejenigen herausfindet, die auch die beanspruchten funktionellen Erfordernisse erfüllen (in Anlehnung an T 435/91 (ABl. 1995, 188 und T 1063/06). In T 544/12 musste der Fachmann aus der fast unendlichen Schar von Alternativen, die durch die strukturelle Definition des Anspruchs 1 abgedeckt waren, die phosphoreszierenden Verbindungen herausfinden. Anspruch 1 erstreckte sich auf Klassen (von Iridiumkomplexen), die sich komplett von dem vom Patentinhaber vorgebrachten Konzept unterschieden (Verstoß gegen Art. 83 EPÜ). Die Kammer teilte nicht die Auffassung des Bundesgerichtshofs, die dieser in seinem Urteil Nr. X ZB 8/12 vom 11. September 2013 vertreten hatte.
S. auch T 959/08 (Erfordernis der Ausführung eines funktionellen Merkmals auch hoch relevant für Art. 83 EPÜ – keine verallgemeinerungsfähige Lehre – unzumutbarer Aufwand) und Kapitel II.A.3.4. "Funktionelle Merkmale".
Die sehr detaillierte Entscheidung T 842/14 betraf eine chemische Zusammensetzung eines mit einer Marke bezeichneten Produkts (s. auch T 270/11 und T 623/91). Nach T 667/94, T 325/13 und T 1383/10 sind die Anforderungen des Art. 83 EPÜ erfüllt, wenn die mit Marken bezeichneten Produkte für die Durchführung der Erfindung wesentlich sind und diese Produkte dem Fachmann nicht nur zum Prioritäts- und Anmeldetag des Patents, sondern auch während seiner gesamten Lebensdauer zur Verfügung stehen (in T 842/14 bestand keine Gewissheit, dass die Zusammensetzung unverändert bleiben würde). In dem Zusammenhang enthält T 842/14 enthält auch eine eingehende Begründung zur Unterscheidung zwischen den Anforderungen des Art. 83 EPÜ und Art. 54 EPÜ (insbesondere im Hinblick auf G 1/92, ABl. 1993, 277).