I. Haupt- und Hilfsanträge
In mehreren jüngeren Entscheidungen kamen die Kammern (abweichend von T 1157/01, s. folgender Absatz) zu dem Schluss, dass eine konkludente Antragsrücknahme möglich ist und dann vorliegt, wenn sich aus den Umständen zweifelsfrei ergibt, dass bestimmte Anträge nicht weiterverfolgt werden sollen (s. T 388/12, T 2301/12, T 52/15, T 1255/16 und T 1695/14).
In T 1157/01 hatte der Antragsteller all seine Anträge (Hauptantrag und drei Hilfsanträge) aufrechterhalten. Als er erklärte, der auf der Grundlage des dritten Hilfsantrags für die Erteilung vorgeschlagenen Fassung nicht zuzustimmen, wiederholte der Beschwerdeführer jedoch nicht ausdrücklich, all seine bisherigen und im Rang vorgehenden Anträge aufrechtzuerhalten. Nach Auffassung der Kammer konnte jedoch gemäß dem in G 1/88 (ABl. 1989, 189) angeführten allgemeinen Grundsatz "a jure nemo recedere praesumitur" mangels ausdrücklicher Rücknahme ein Rechtsverzicht nicht einfach vermutet werden; eine Wertung des Schweigens als Verzicht würde auch einer systematischen Auslegung des Übereinkommens widersprechen.
In T 388/12 bestätigte die Kammer, dass es ein allgemeiner Rechtsgrundsatz sei, dass ein Rechtsverzicht nicht ohne Weiteres vermutet werden könne (unter Verweis auf G 1/88). In strikter Anwendung des Grundsatzes "a jure nemo recedere praesumitur" könne sich die Zurücknahme eines Antrags nur aus Handlungen des Beteiligten ergeben, die eine derartige Absicht eindeutig offenbarten. Gleichzeitig führte die Kammer aus, dass eine ausdrückliche Zurücknahme eines Antrags dann nicht erforderlich sei, wenn die entsprechende Absicht dem Verhalten oder den Äußerungen des Beteiligten eindeutig zu entnehmen sei.
Umstände aus denen sich die Antragsrücknahme zweifelsfrei ergab, wurden in den folgenden Entscheidungen angenommen:
In T 2301/12 hatte der Patentinhaber die ursprünglichen Anträge vor der Einspruchsabteilung durch neue Anträge ersetzt. Nach Auffassung der Kammer implizierte das Wort "ersetzen", dass der ursprüngliche Hauptantrag nicht mehr der aktuelle Hauptantrag war, und da auch nichts unternommen wurde, um ihn als neuen Hilfsantrag beizubehalten, drängte sich die Schlussfolgerung auf, dass er schlicht zurückgenommen wurde. Die neuen Anträge waren der Niederschrift beigefügt, und der erste war eindeutig mit "Hauptantrag" überschrieben. Die Kammer ließ das Argument nicht gelten, wonach die Überschriften von Anträgen lediglich als Mittel der Identifizierung dienten. Wenn ein Patentinhaber mehrere Anträge einreicht, muss es einen Hauptantrag geben, und in jeder Phase des Verfahrens muss klar sein, welcher Antrag dies ist.
Im gleichen Sinne urteilte die Kammer in T 52/15, dass die Einspruchsabteilung unter den gegebenen Umständen zu Recht davon ausgegangen war, dass jeder neu eingereichte "Hauptantrag" eindeutig den bzw. die zuvor eingereichten ersetzen sollte. Die Kammer betonte, dass die Zurücknahme eines Antrags ein ernstzunehmender Verfahrensschritt ist, der von den Beteiligten normalerweise ausdrücklich erklärt wird und der im Protokoll erwähnt werden muss (s. T 361/08). Allerdings erübrigt sich eine ausdrückliche Zurücknahme, wenn das Verhalten eines Beteiligten oder die von ihm im Verfahren eingeleiteten Schritte unmissverständlich sind (s. T 388/12). Die Kammer bestätigte, dass die Verfahrensorgane des EPA die Pflicht haben, dafür zu sorgen, dass jegliche Ungewissheit in Bezug auf Verfahrenshandlungen der Parteien geklärt wird. Ist eine Verfahrenshandlung eines Beteiligten hingegen klar und gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass seine Absichten nicht richtig verstanden wurden, so kann er nicht erwarten, die Folgen dieser Verfahrenshandlung nicht tragen zu müssen.
In T 1255/16 kam die Kammer aus folgenden Gründen zu dem Schluss, dass die zuvor eingereichten Anträge durch die neu eingereichten Ansprüche ersetzt worden waren: Die Erwiderung des Beschwerdeführers auf die vorläufige Stellungnahme, in der die Kammer Einwände gegen die zuvor eingereichten Anträge erhoben hatte, enthielt keine Argumente zu deren Stützung, sondern lediglich Gründe, warum die neu eingereichten geänderten Ansprüche EPÜ-konform seien; zudem widersprach der Beschwerdeführer nicht, als die Kammer ihn in einer weiteren Mitteilung über ihr Verständnis informierte, dass die neu eingereichten Ansprüche die bisherigen anhängigen Sachanträge ersetzten.
Eine konkludente Antragsrücknahme nahm die Kammer auch in T 1695/14 an. Sie befand zudem, dass frühere Anträge, die nicht als Haupt- oder Hilfsantrag weiterverfolgt, sondern (konkludent) zurückgenommen wurden, nicht im Verfahren verbleiben, denn das Verfahrensrecht kenne geltende und zurückgenommene Anträge, nicht aber ruhende Anträge.